ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Thomas Stahel, Wo-Wo-Wonige! Stadt- und wohnpolitische Bewegungen in Zürich nach 1968, Paranoia City Verlag, Zürich 2006, brosch., 48,00 CHF (30,00 €).

Das Erste, was auffällt, ist die Gestaltung dieses Buches: In einer aufwendigen Recherche hat Thomas Stahel Bildarchive durchforstet, Fotografinnen und Fotografen aufgesucht und Dachböden durchstöbert, um ein eindrucksvolles ,,Bildgedächtnis" zu schaffen. Aus der Sammlung von 1.000 Plakaten und Flugblättern, Privat- und Pressefotos wurden etwa 300 für das Buch ausgewählt. Die Bilder evozieren die erstaunliche Dynamik der Konflikte, die Wohnungsnot und Stadtumbau in Zürich seit den 1960er Jahre auslösten. Ein zentrales Anliegen des Buches ist, die Bedeutung der wechselnden Akteure der Miet- und Häuserkämpfe zu betonen, von Migrantinnen und Migranten, die eine an dem ersten besetzten Haus in der Post-1968-Zeit angebrachte Wandzeitung studieren (S. 287), über die als ,,Spitzköpfe" verkleideten Besetzer des ,,Stauffacher"-Häuser im Jahre 1983 (S. 102) bis hin zu der Performance der dadaistisch inspirierten ,,Fondation Krösus" anlässlich der Besetzung des ehemaligen Cabaret Voltaire im Februar 2002 (S. 378). Und ist es nicht ein weiter Weg von dem Wahlplakat der Sozialdemokratischen Partei aus dem Jahre 1963, das einen Vater und ein Kind zeigt, die ,,für Dich und Deine Familie" eintreten bis zum Foto aus der ,,Fabritzke" (S. 161), in der 1999 sieben bis acht Personen einen gemeinsamen Raum bewohnten?

Die Bilder schlagen die Themen an, die den roten Faden von Stahels Dissertation bilden. Das Buch ist in drei Teile aufgeteilt: Der erste analysiert die Geschichte der Stadtentwicklung in Zürich, wobei sowohl die immer schon global diffundierenden Stadtutopien mit der Praxis der ,,Autostadt", der ,,funktionalen Trennung" von Wohnen, Arbeiten und Freizeit konfrontiert werden. Im zweiten Teil analysiert Stahel die Antworten, die auf beides seit den 1970er Jahren entstanden: Autonomie, Selbstversorgung, egalitäre Geschlechterbeziehungen und soziale Gleichheit. Schließlich folgt im dritten Teil des Buches eine Analyse der ,,eigenen" Konfliktgeschichte: Mieter(innen)proteste, Häuserkämpfe, Hauskauf und -bau, militante Anschläge. Am Ende des Buches findet sich eine Chronologie der verschiedenen Kämpfe und ein umfängliches Verzeichnis der beteiligten Gruppen und Initiativen; inzwischen existiert sogar eine Website dazu. (1) Das Buch hat übrigens sogar eine eigene Homepage hervorgebracht.

Stahel bezeichnet seine eigene Arbeit mit vollem Recht als ,,dichte Beschreibung" (S. 10). Es ist insofern ein Pionier-Werk, als dass weder aus Zürich noch aus den allermeisten anderen westeuropäischen Großstädten Texte vorliegen, die die Ziele und Methoden der stadt- und wohnungspolitischen Opposition befriedigend zusammenfassen. Die Quellenlage ist kompliziert: Die Aktivistinnen und Aktivisten der Proteste und Projekte haben diesen eher selten einen bleibenden, zukünftig historischen Wert zugemessen (S. 11). Entsprechend spielten bei der Recherche offenbar die Sympathie des Autors mit einem Teil dieser Bewegungen sowie die daraus entstehenden persönlichen Kontakte eine große Rolle. Die Aufgeschlossenheit gegenüber den Problemen, die die Bewegungen artikulierten, wird im Text sehr deutlich, wobei der Autor zugleich die Defizite und Grenzen derselben durchaus betont. Die ,,Bewegungsnähe" des Buches ist auch ein Grund dafür, dass es wie ein ,,Nachschlagwerk" konzipiert ist: ,,Man kann sich ohne Verständnisverlust einzelne Kapitel herauspicken" (S. 10). Allerdings erleichtert dieses Vorgehen die Suche nach dem roten Faden nicht. Gerade für den mit den lokalen Verhältnissen nicht vertrauten Leser ist die Masse an Informationen schwer zu verarbeiten.

Hat man sich mit diesem Nachteil arrangiert, so lassen sich gleichwohl einige wichtige analytische Ecksteine herausarbeiten. Eine Stärke des Textes ist beispielsweise, dass er die Sparten der Stadtgeschichte sowie der Protest- und Bewegungsgeschichte zusammen denkt, was zwar gerade angesichts der aktuellen Entwicklungen hin zur ,,Globalen Stadt" nahe liegt, aber in der (auch transnationalen) Historiografie derzeit noch immer eine Ausnahme ist. Dabei ist das Aufkommen der Proteste gegen die wohnpolitische Situation sowohl in Zürich als auch in anderen europäischen Städten kaum ohne einen Rekurs auf die Träume und Realitäten der Stadtentwicklung in der Moderne zu erklären. Frappierend ist die Mixtur aus Utopismus, die sich in Projekten wie dem ,,Züriturm" und der ,,City im See" um 1960 äußerte, und dem Mangel an einer sozialen und umweltverträglichen Planung (S. 61). Hochhäuser und Dienstleistungszentren, die unter dem Eindruck des ökonomischen Booms und in Erwartung einer gigantischen Expansion der ,,Metropole Zürich" gedacht wurden, wurden durch eine Fokussierung auf die ,,autogerechte" Stadt ergänzt, in Zürich in Form der so genannten Y-Achse, die rücksichtslos in Wohngebiete hinein geplant wurde (S. 62). Gleichzeitig kam es wie andernorts auch, zur ,,Suburbanisierung", das heißt zur Ausdehnung der Vor- und Schlafstädte, die nach den Bedürfnissen der vierköpfigen Kleinfamilie und als Ausdruck der Trennung von Wohnen und Arbeiten eingerichtet wurden. Die ersten stadtpolitischen Bewegungen richteten sich, noch als unmittelbare Folge der transnationalen neuen Jugendbewegung, gegen diese Trennungen, ob in Form der ,,Globuskrawalle", in denen im Juni 1968 um die Forderung nach einem autonomen Jugendzentrum gestritten wurde, in einer spektakulären Hausbesetzung in der Venedigstraße und schließlich in den Kämpfen um billige Wohnungen, die 1973/74 die ,,autonome Organisierung der Schüler, Fremdarbeiter und einiger Mieter vorantreiben" wollte (S. 321).

Die Entstehung dieser Proteste lässt sich kaum erklären, ohne auf die Folgen der Stadtentwicklung in den ,,goldenen Zeiten" zu verweisen, die nicht nur in Zürich eine permanente, sich zyklisch jedoch verschärfende, Wohnraumknappheit hervorbrachten. In bundesdeutschen Städten entstanden in ähnlichen Kontexten ähnliche Bewegungen, was in Zürch das ,,Ypsilon" war, war etwa in Frankfurt am Main der städtische ,,Fünffingerplan", der die Voraussetzung für die Häuserkämpfe der frühen 1970er Jahre im Frankfurter Westend bot. Zurecht verweist Stahel auf die Notwendigkeit, die Kontexte und Verlaufsformen dieser Auseinandersetzungen vergleichend zu analysieren (S. 419). Dabei wäre es auch wichtig, die soziale Zusammensetzung der Proteste stärker zu thematisieren als (auch) in Stahels Buch, ein Gegenstand, der hinter der Orientierung auf die ,,eigene Geschichte" der eher subkulturell geprägten und scheinbar ,,klassenlosen" Protestbewegungen etwas zurücktritt.

Die Orientierung auf die ,,Szene" wird besonders im zweiten Teil des Buches pointiert. Auch hier sind Stahels Resultate sehr interessant, obgleich sie noch schwieriger zu ermitteln waren als in der Frage nach der Geschichte der Stadtentwicklung und der sozialen Kämpfe. Im Mittelpunkt steht dabei die Forderung nach eine Ablösung der patriarchal geprägten Kleinfamilie (und der in ihr gelebten Formen der heteronormativen Sexualität) auf der einen, die Forderung nach ,,Autonomie" auf der anderen Seite. Was das Letztere betrifft, so existierten (und existieren) in Zürich Projekte, die grob der Geschichte der Alternativbewegung der 1980er Jahre zugeordnet werden können: Stahel schildert das Beispiel bolo'bolo, ein Projekt, das mit dem ,,Karthago am Stauffacher" den Versuch unternahm, eine autarke, sich selbst versorgende Gemeinschaft zu organisieren: ,,Wohnen, Arbeiten und Kultur in einer Siedlung" (S. 135). Die hochfliegenden Ziele der so entstandenen Kollektive waren kurzfristig selten durchgreifend und wurden nur wenig nachgeahmt. Sie haben sich jedoch bis heute zumindest lokal in eine Reform des Alltagslebens ,,übersetzt", mit einer stärker gemeinschaftlich organisierten Kinderbetreuung und dem gemeinsamen Kochen in Großküchen, für die das ,,Karthago an der Zentralstraße" und das ,,KraftWerk1" stehen (S. 139). Was das ,,Gendering" der autonomen Projekte betrifft, so nahm die ,,sexuelle Revolution", die in verschiedenen experimentellen Wohnformen angestrebt wurde, ambivalente Formen an. Stahel zeigt dies unter anderem an der ,,mobilen Kommune", einem derjenigen Projekte, in denen Zweierbeziehungen grundsätzlich abgelehnt wurden, aus denen heraus sich letztlich aber eine feministische Kritik etablierte, die sich gegenüber der Dominanz der Männerphantasien in diesen Projekten für eigenständige Frauenräume einsetzte (S. 187). Das Kapitel über die Beiträge, die die Kollektivbewegung für die Entwicklung egalitärer Geschlechterbeziehungen geleistet hat, fällt dementsprechend in Stahels Text recht kurz aus: Anstöße für die Ausbreitung und Akzeptanz neuer Lebensentwürfe wurden gegeben, die Ausbreitung der Singlehaushalte und Wohngemeinschaften lag jedoch auch sonst im Trend (S. 197f.).

Im dritten und umfangreichsten Teil des Buches analysiert Stahel schließlich die Geschichte der Miet- und Häuserkämpfe in Zürich. 1980/81 trat die Hausbesetzerbewegung erstmals nach einer mehrjährigen Pause wieder massiv auf, beeinflusst durch die gleichzeitigen spektakulären Entwicklungen in Berlin, Amsterdam, Kopenhagen oder London. Der in der Schweiz traditionelle Kündigungstermin für Mietverhältnisse, der 1. April, wurde 1981 mit einer ,,Enteignungsoffensive" beantwortet, in der Folge wurden innerhalb von zwei Monaten mehr Häuser besetzt als in den Jahren 1971 bis 1978 zusammen (S. 323). Die ,,erste Welle" der Hausbesetzungen scheiterte an den repressiven Reaktionen der Politik und der Polizei. Die ,,zweite Welle" der Hausbesetzungen begann 1986, zentrale Bedeutung übernahm dabei Das Netz als eine Art Dachorganisation, auch hier wiederum eine Form, die sich auch in anderen europäischen Ländern in den 1980er Jahren durchsetzte. Ebenso wie in Deutschland oder England entwickelte sich zudem die Tendenz,

Hausbesetzungen kurzfristig mit ,,Quartiersarbeit" zu verbinden. Dabei spielten die Probleme der Ausgrenzung und Verdrängung ärmerer Bevölkerungsschichten bereits eine stärkere Rolle, ebenso die Forderung nach ,,kulturellen Freiräumen". Mit dem Scheitern des Projektes ,,Annaberg" endete diese Phase: Stahel schildert, wie die Bewegung ,,implodierte": In den ,,autonomen Strukturen" konnte es mitunter sehr hierarchisch zugehen (S. 328). 1989 schaffte schließlich die Eskalation der Wohnungsnot die soziale Basis für eine ,,dritte Welle" der Häuserkämpfe: Angesichts von Dutzenden Besetzungen, wöchentlichen Wohnungsnot-Demonstrationen und des großen Verständnisses in der Bevölkerung für die Besetzungen, änderte die Stadt die restriktive Räumungspolitik. Anlässlich einer Besetzung der Limmatstraße 217 kam es erstmals zu Verhandlungen zwischen Stadt, Eigentümern und Besetzenden, mit der Folge, dass das Haus immerhin 15 Monate gehalten wurde. Seit dieser Zeit ist in Zürich kontinuierlich mindestens ein Haus besetzt.

Während die Konflikte und Bewegungen der frühen 1970er Jahre nicht ohne die Paradigmen der modernen Stadtentwicklung zu erklären sind, gilt andersherum, dass die Kämpfe der 1980er Jahre eine Stadtplanung im heutigen Sinne, einschließlich der Berücksichtigung der sozialen Konsequenzen der Stadtpolitik, erst hervorgebracht haben. Für eine kurze Zeit ging die seit 1990 regierende rot-grüne Regierung Zürichs auf Forderungen einer politischen Kontrolle von Mieterhöhungen und Bodenspekulation ein, ohne dabei allerdings durchgreifende Erfolge zu erzielen. Stahel schildert, wie die Existenz der Bürgerinitiativen und Mietervereine sowie der in der Schweiz vorhandenen Möglichkeiten der direkten Einflussnahme auf die Politik durch Abstimmungen dieses Fenster öffnete, das allerdings schon Mitte der 1990er Jahre durch einen der transnationalen Standortpolitik folgenden ,,Paradigmenwechsel" wieder geschlossen wurde. Dabei bezieht sich die bis heute regierende Koalition mehr und mehr nur noch auf die ,,kulturellen" Aspekte der Protestbewegungen, wobei diese selbst eine ähnliche Verengung durchaus nahelegten. Seit der Besetzung des ,,Wohlgroth-Geländes" im Jahre 1991 geriet die Forderung nach ,,kulturellen Freiräumen" immer stärker in den Blick (S. 331ff.). Trotz der Dynamik der ,,kulturell orientierten" stadtpolitischen Bewegungen konstatiert Stahel am Ende eine Abkehr von der Forderung nach der ,,ganzen Stadt", von der die Proteste der 1970er und 1980er geprägt gewesen seien, hin zu einer ,,Zurückstufung der politischen Ziele" und sogar zur ,,Isolation der stadtpolitischen Bewegungen" gegenüber der neuen, wirtschaftsfreundlichen Linie der rot-grünen Koalition (S. 414).

Mit diesen Bemerkungen ist zugleich die Ambivalenz jenes Zyklus dargelegt, der sich in der Dialektik von urbanen Protesten und Stadtentwicklung zeigt. Die Aneignung urbaner Räume führt zu einer Neuorientierung der Stadtpolitik. Neue Lebensweisen, die Forderung nach Autonomie, nach einer Aufhebung der funktionalen Trennung zwischen Arbeiten und Wohnen, all dies trägt zu Innovationen bei, die durchaus marktgängig sein können: Stahel erwähnt, wie die Bauherren und Immobilienbesitzer diese Forderung in das ,,Flexwohnen" übersetzt haben, ein Konzept, das ,,interessante Nutzungsvarianten" und höhere Profite verspricht (S. 194). Und schließlich gilt diese Spannung zwischen Protest und Innovation auch für die Bedeutung der Kultur, mit dem transnationalen Phänomen, das die Kreativität der Subkultur zum Motor von Aufwertungs- und Gentrifizierungsprozessen gemacht wird. Dass ,,Zürich baut und investiert, gründet und feiert" und dass ,,wo sich Fraktionen einst mit Gummigeschossen belagerten, (ein) Boom entfesselt worden (ist)", schrieb das ,,Magazin" im Jahre 2000, unter einem Bild mit einem Feuerwerk über der Limmatmetropole (S. 107). Bis heute ist Zürich im Ranking der ,,attraktiven" Standorte weltweit führend. Gleichzeitig steigt die Polarisierung zwischen Arm und Reich auch quantitativ-statistisch gesehen kontinuierlich.

Stahels Buch zeichnet diese Entwicklung hin zu Zürich als ,,globaler Stadt" eindrucksvoll nach. Der Ansatz hätte, auch wenn angesichts der Fülle des Materials der rote Faden manchmal schwer zu erkennen ist, Nachahmer verdient. Zumal sich am Ende zeigt, wie die ,,alten" Proteste die ,,neue" Stadt mit hervorgebracht haben, mit all ihren Widersprüchen, offenen Fragen und neuen Konflikten.

Peter Birke, Hamburg

Fußnoten:


DEKORATION

©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE 11. Dezember 2008 (Korr.: 14.1.2009)