ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Jill Lewis, Workers and politics in occupied Austria 1945-1955, Manchester University Press, Manchester 2007, 272 S., geb., $ 84,95.

Es gibt viel an Literatur über die österreichische Arbeiterbewegung in der Entstehungsphase und in der Zwischenkriegszeit. Nur für den angelsächsischen Sprachraum wären hier vor allem die Arbeiten von Tim Kirk (1996) (1) und Jill Lewis (1991) (2) zu nennen. Auch die Zeit nach 1945 ist gut recherchiert worden, vor allem was die Besatzungspolitik und die österreichische Nachkriegsdiplomatie betrifft. Jedoch scheint das Interesse für die Wirkung der turbulenten Zeit auf die Innenpolitik nach 1945 eher gering zu sein, vor allem was das Entstehen und Etablieren des neuen politischen Systems betrifft. Zwar gilt der Beitrag der Arbeiterbewegung zum Errichten des österreichischen Sozialpaktes als unumstritten, die Kulissenspiele sind aber weniger bekannt und erforscht, vor allem dahingehend, wie die Beziehung zu den und die Rolle der Besatzungsmächte während der Zeit der alliierten Besatzung Österreichs gewesen ist. Diese Lücke möchte Jill Lewis mit ihrer Arbeit füllen, indem sie die Geschichte der Arbeiterbewegung zwischen den Jahren 1945 und 1955 im gesellschaftlichen Kontext der österreichischen Nachkriegszeit untersucht.

Ziel des Ende 2007 erschienenen Buches von Jill Lewis über die Entwicklung und Organisierung der Arbeiterbewegung in Österreich nach 1945 ist es zu beweisen, dass die veränderte Position Österreichs nicht unbedingt dem Aufstieg der Arbeiterschaft zu verdanken war, sondern der ungewöhnlichen Konstellation, in die sich der österreichische Staat nach 1945 befand. Infolge der unmittelbaren Kriegsgegebenheiten entwickelte sich die komplexe politische Kultur der Zweiten Republik, was auch auf die Arbeiterbewegung, die an der Bildung dieser Kultur maßgeblich mitwirkte, einen großen Einfluss ausübte.

Über neun Kapitel beschreibt die an der walisischen University of Swansea tätige Historikerin Lewis die Entwicklung des österreichischen innenpolitischen Systems nach 1945. Die knappe Einleitung analysiert die neuesten Herausforderungen, mit denen das österreichische politische System konfrontiert wurde: die Wahlen von 1986 und 1999, infolge derer klar wurde, dass in Österreich nur eine zögerliche und ungern geführte Diskussion über die Vergangenheit stattgefunden hatte und stattfand. Den Grund dafür sieht Lewis in der Tatsache, dass die Politiker, die nach 1945 an die Macht kamen, bestrebt waren, eine Politik des Konsensus zu führen, mit dem Argument, Österreich sei eine wie aus der Asche wiedergeborene Nation, welche nicht nur unter nationalsozialistischer, sondern auch unter alliierter Besatzung gelitten habe. Dieses habe eine adäquate Verarbeitung der Vergangenheit verhindert (S. 4).

Das zeitliche Gewicht des Buches liegt auf den Jahren 1945 bis 1950. Das erste Kapitel befasst sich mit dem ,,Anschluss" von 1938, wobei die Rolle der Sozialisten sowie das Fehlen von politischer Einigkeit eingehender diskutiert werden. Die nächsten beiden Kapitel befassen sich ausführlich mit dem Jahr 1945, dem Ende des Krieges und seinen Folgen - Besatzung, Hunger, Aufbau und Notwendigkeit eines neuen, funktionierenden politischen Systems. Lewis beschreibt sehr gekonnt die einzigartige Situation, in der sich die Alliierten befanden, als eine neue Regierung gebildet werden musste und dabei nicht nur auf alte Netzwerke zurückgegriffen wurde, sondern auch die Erreichbarkeit der zukünftigen politisch Agierenden eine wichtige Rolle spielte: die Besatzungsmächte konnten wegen Zeitdruck und fehlender Technologie infolge der Kriegshandlungen nur damals in oder unmittelbar um Wien sich befindende Personen für die Regierungsbildung berücksichtigen. Auch geht sie auf die Rolle der Sowjetunion in der neu entstandenen Konstellation und deren Einfluss auf die Kommunistische Partei Österreichs ein, die ihrerseits Einfluss auf die organisierte Arbeiterbewegung zu gewinnen versuchte. Dieses spannende Sujet zieht sich wie ein roter Faden durch das gesamte Buch, vor allem da die Autorin neue Quellen aus Moskauer Archiven zu dieser Problematik verwertet hat.

In den nächsten vier Kapiteln befasst sich Lewis mit der Zeit zwischen 1945 und 1950. In dieser Periode seien Verwirrung, Unsicherheit, Befürchtungen und Angst in der Bevölkerung vorherrschend gewesen.. Mit Hungersnot und Armut konfrontiert, beschlossen die österreichischen Eliten, eine Konsenspolitik zu führen, um die politische und wirtschaftliche Sicherheit ihres Landes garantieren zu können. Aus innenpolitischer Sicht bedeutete dies, dass alle Parteien ein einheitliches und harmonisch agierendes Zahnwerk zu bilden hatten, aus welchem das Modell des österreichischen Korporatismus entstand. Die Folge für die Arbeiterschaft war, dass in Wahrung der gemeinsamen Interessen Preise, Löhne und Arbeitsbedingungen auf nationaler Ebene ausgehandelt wurden, was aber auch dazu führte, dass der ÖGB wegen dieses Zentralismus geschwächt wurde. Die Autorin zeigt jedoch auf, dass trotz dieser Maßnahmen Protestbewegungen unter den Arbeitern aufgrund der prekären wirtschaftlichen Situation des Landes entstanden. Diese Proteste wurden zwar von den Gewerkschaftsführern nicht unterstützt, dafür aber von der KPÖ für politische Zwecke genutzt, vor allem in der sowjetischen Besatzungszone, allerdings mit nur geringem Erfolg. Gleichzeitig wurde auch die Spannung zwischen den Westmächten und der Sowjetunion immer stärker spürbar.

Das achte Kapitel, ,,Der Putsch, den es nie gab", handelt von einem Putschversuch 1950. Der ,,berühmte" Putsch war vielmehr, wie Lewis zeigt, ein kommunistischer Streik, der den Fall des vierten Lohn- und Preisabkommens sowie die Änderung der Machtverhältnisse innerhalb des Österreichischen Gewerkschaftsbundes (ÖGB) zum Ziel hatte. Die Regierung behielt aber die Oberhand und stellte die Begebenheiten als vereitelten kommunistischen Putschversuch dar, nicht ohne die stille Genehmigung der amerikanischen Besatzungsmacht. Die Hintergründe und der als Reaktion auf den Streik ausbrechende Propagandakrieg zwischen Regierung und ÖGB einerseits und den Kommunisten und der sowjetischen Besatzungsmacht andererseits werden von Lewis unter der Heranziehung der damaligen Tagespresse wie der Protokolle und Sitzungsberichte des Foreign Office und der österreichischen Regierung gekonnt durchleuchtet. Dabei wird ersichtlich, wie vonseiten der Regierung der Mythos des von den Sowjets unterstützten Putsches - der bis in die heutige Zeit tradiert wurde, wie Lewis vermerkt - konstruiert wurde. ,,It was also extremely popular, reflecting an image of Austria as the David who had withstood the Soviet Goliath"(S. 189).

Im neunten und letzten Kapitel beschreibt die Autorin die Zeit nach 1950, als sich der ÖGB nach seiner schwachen Phase wieder zu erholen begann. Lewis stellt den Gewerkschaftsbund als tragende Kraft der sozialen Partnerschaft dar. Was hier jedoch zu kurz kommt, sind die außenpolitischen Implikationen und Kulissenspiele zwischen der österreichischen Regierung und den Besatzungsmächten. Dies ist aber vielleicht auch der Tatsache geschuldet , dass sich die tatsächlich analysierte Zeitspanne des Buches auf die Jahre 1945 bis 1950 beläuft und nicht, wie es der Titel vorgibt, auf die Zeit von 1945 bis 1955. Nur das letzte Kapitel zeigt im Schnelldurchlauf die Entwicklung bis ca. 1963 als Ausblick. Auch fehlt ein ausführliches Fazit - dieses umfasst knapp 30 Zeilen am Ende des neunten Kapitels.

Auch wenn die Entwicklungen der Zeitspanne 1950-1955 entschieden zu kurz kommen, ist es das große Verdienst von Jill Lewis, das Augenmerk auf die komplexe innenpolitische Lage und Entwicklung Österreichs in der Nachkriegszeit durch diesen Band gerichtet zu haben. Sie hat wichtige österreichische, britische und sowjetische Quellen in ihre Analyse der österreichischen Arbeiterbewegung nach 1945 mit einbezogen und durch die so gelieferten Erkenntnisse zur Entstehung und Entwicklung der Nachkriegsregierung und des Korporatismus einen neuen und wichtigen Beitrag zur Geschichte der Arbeiterbewegung geleistet.

Laura Polexe, Freiburg

Fußnoten: