ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Bernd Gehrke/Gerd-Rainer Horn (Hrsg.), 1968 und die Arbeiter. Studien zum ,proletarischen Mai' in Europa, VSA-Verlag, Hamburg 2007, 336 S., kart., 19,80 €.

Es schält sich inzwischen zu einem Allgemeinplatz heraus, dass für die transnationale Revolte der späten Sechzigerjahre, die mit der Jahreszahl ,1968' verbunden wird, kaum Studien zum Anteil und Verhältnis von Arbeiterinnen und Arbeitern an diesem Entwicklungen vorliegen. Dafür sprechen viele Gründe, wozu wohl auch die Selbstwahrnehmung der Beteiligten gehört. Der ehemalige SPD-Vorsitzende Kurt Beck hat neulich in einem Interview hervorgehoben, dass er durch die Gewerkschaftsjugend politisiert worden sei und Demonstrationen mitmachte, aber die ,,68er-Bewegung" habe er nur ,,aufmerksam" verfolgt und betont, dass er an keinen ,,Studentendemonstrationen" teilgenommen habe. (1) Es ist gewiss an der Zeit, die politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen der Änderungsprozesse Ende der sechziger Jahre auch für die Arbeiterschaft genauer zu untersuchen.

Bernd Gehrke und Gerd-Rainer Horn haben einen Sammelband vorgelegt, der sich dem Thema in einem europäischen Vergleich nähert. Dabei betonen die Herausgeber zu Recht, dass die internationale Perspektive häufig ausgeblendet und vor allem die Neue Linke der romanischen Länder - insbesondere Spanien, Portugal und Italien - zuwenig rezipiert werde.

Die inhaltliche Klammer des Sammelbandes bildet ein Überblicksartikel von Gerd-Rainer Horn, in dem er eine Periodisierung des ,proletarischen Mais' anhand von sozialen Kämpfen für die Jahre 1962 bis 1976 zu konturieren sucht, die er vor allem auf die Streikbewegungen in den südeuropäischen Ländern stützt (S. 33-39). Das Jahr 1962 begründet Horn mit wilden Streiks in Spanien, wo sich mit Arbeiterkomitees neue Formen sozialer Kämpfe etablierten, 1976 wählt er als Endpunkt, da die italienischen Gewerkschaften sich kompromissbereiter zu zeigen begannen (S. 37). Die Streiks und spontanen Aktionen, die er für Italien und Frankreich ausführlicher beschreibt, sieht er als Kern der ,,Jahre um 1968": die Selbstermächtigung der Arbeiter, die mit Mitteln wie Vollversammlungen, Betriebsbesetzungen und spontanen Demonstrationen ,,ihre Angst gegenüber Vorarbeitern, Abteilungsleitern, leitenden Angestellten, usw." verloren (S. 44). Aber nicht allein dieses psychologische Moment der Befreiung nennt er als wichtige Erfahrung, sondern auch große materielle Erfolge in Form von Lohnsteigerungen und Arbeitszeitverkürzungen. Fraglich bleibt, ob dies allein auf Aktionen der Arbeiter zurückzuführen ist, ebenso die Fokussierung auf die romanischen Länder, die mit einer Vernachlässigung der nordeuropäischen Länder einhergeht. Unklar bleibt auch, welche Verbindungen über einen proklamierten Internationalismus zwischen den einzelnen Ländern bestanden.

Diese weite Periodisierung hat Horn an anderer Stelle ausführlicher dargestellt. (2) Ungeachtet eines plausiblen Zusammenhangs der sozialen Kämpfe bleibt die Frage der Begrifflichkeit. Die sich lange nach den Ereignissen etablierende Chiffre ,1968' scheint so dehnbar, dass die wissenschaftliche Überzeugungskraft doch erheblich zu wünschen übrig lässt. Die Begriffe ,1968' und ,proletarischer Mai' sind eine fragwürdige Bindung von chronologisch und auch inhaltlich sehr unterschiedlichen Ereignissen auf ein Jahr und einen Monat; ein Widerspruch, der nicht aufgelöst werden kann und die mediale Referenz zu ,1968' auch in wissenschaftlichen Werken illustriert.

In der Einleitung betonen die Herausgeber, dass eine vollständige Übersicht noch nirgendwo geleistet wurde und der Sammelband daher nur Ausschnitte zeigen kann. Dies erfolgt in den 13 Artikeln als Skizzen zu einzelnen Ländern. Vier beschäftigten sich mit der Bundesrepublik und der DDR. Peter Birke beschreibt die Entwicklung von wilden Streiks in der Bundesrepublik vor und nach 1969. Sein Schwerpunkt sind dabei nicht die bekannten Septemberstreiks 1969, sondern Birke arbeitet heraus, dass bereits in den allgemein als streikarm betrachteten 1960er Jahren der Anteil von wilden, also nicht durch die Gewerkschaften sanktionierten Streiks, relational stark anstieg. Dabei handelte es sich zumeist um lokale Konflikte, die als ,zweite Lohnrunde' materielle Verbesserungen in den Betrieben brachten. Anfang der 1970er Jahre gab es einen erheblichen Anstieg von wilden Streiks, die nach Birke häufig auch die Bedingungen der Fließbandarbeit kritisierten und daher den Demokratisierungsanspruch der Arbeiterbewegung erneuerten, zugleich aber auch einen ,Eigen-Sinn' der Arbeiter ausdrückten.

Karl Lauschke fokussiert in einer Mikro-Studie auf die Veränderungen in der gewerkschaftlichen Mitgliederstruktur in der Dortmunder Stadtverwaltung. Für ihn markiert 1969 eine ,,Zäsur in den industriellen Beziehungen" (S. 77). Neben dem Mitgliederanstieg der Gewerkschaften und einem Anstieg von Betriebsräten nach 1972 sieht er in der Politisierung der Vertrauensleute und einer generationellen Verschiebung wichtige Elemente, die er hier exemplarisch an einem bis Ende der siebziger Jahre dauernden Konflikt um gleitende Arbeitszeit in der Stadtverwaltung aufzeigt.

In einem Beitrag zu Arbeiterprotesten in Leipzig 1968 hebt Michael Hofmann hervor, ,,das bisschen 1968, das es in der DDR gab", eher als Nachklang zu den Arbeiterprotesten der 50er Jahre zu werten sei (S. 92). Zwar habe sich in den sechziger Jahren ein ,,Stillhalteabkommen" zwischen Arbeitern und Parteiherrschaft etabliert, dennoch gab es in einigen Leipziger Metallbetrieben betriebsöffentliche Kritik am Einmarsch in Prag, ebenso wie der Umgang mit ,,Gammlern" durch die Partei verurteilt wurde. Erfolgreicher waren die Arbeiter jedoch bei betrieblichen Problemlagen, die durch Kritik und Obstruktion teilweise mit Erfolgen gelöst wurden. Aber insgesamt sei das Protestverhalten der Facharbeiterschaft vor und nach 1968 immer weiter zurückgegangen.

Bernd Gehrke hingegen nennt 1968 das ,,unscheinbare Schlüsseljahr der DDR". Diesen überraschenden Befund begründet Gehrke mit den von der Stasi ermittelten Protestaktionen gegen den Einmarsch in der CSSR, die zu zwei Dritteln von vor allem jungen Arbeitern getragen wurden; zumeist bestanden die Protestformen aus gemalten Parolen oder Diskussionen in den Betrieben. Allerdings hebt Gehrke auch hervor, dass kein Milieu bestand, dass die Proteste zu Massenaktionen hätte werden lassen können. Allerdings sieht er in Jugendkrawallen der sechziger Jahre und späteren Aktionen einen anhaltenden Arbeiterwiderstand, der sich jedoch nach 1968 verschob und vereinzelte. Gegenüber massenhaften Aktionen in den fünfziger Jahren ist 1968 für ihn ein Scheitelpunkt, da danach ein größerer Arbeiterwiderstand fehlte.

Positiv ist das Bestreben, auch die Situation in Osteuropa mit in den Blick zu nehmen. Vier Beiträge befassen sich mit Polen und der Tschechoslowakei. Peter Heumos untersucht dabei die Rolle von Betriebsräten und -ausschüssen in der Tschechoslowakei. In der Nachkriegszeit hatten die Betriebsräte eine starke Stellung erreicht, die von der kommunistischen Partei zwar formal in die Zentralgewerkschaft integriert werden konnte, aber bis in die sechziger Jahre hinein für eine egalitäre Lohnpolitik und gegen hohen Arbeitsdruck agierten. Der Reformpolitik 1968 standen die Arbeiter zuerst abwartend gegenüber, auch die vorgesehenen Werktätigenräte etablierten sich nur langsam. Entscheidender waren innergewerkschaftliche Auseinandersetzungen, die auf eine höhere Autonomie der Betriebsgruppen zielten und sich in der Gründung einer Vielzahl von Berufsgewerkschaften ausdrückten. Erst nach dem Einmarsch avancierte die Werktätigenräte zu oppositionellen Kristallisationspunkten und wurden im Laufe des Jahres 1969 aufgelöst. Lenka Kalinová beschäftigt sich mit dem Verhalten der tschechischen Arbeiter im Jahr 1968. Auch sie unternimmt einen Rückgriff auf die Nachkriegszeit, um die soziale Entwicklung zu beleuchten. Auch wenn ihr Fokus nicht die Betriebsräte sind, ergeben sich doch viele Überschneidungen mit dem Beitrag von Heumos. Dabei treten auch Übersetzungsproblematiken auf: Während Heumos von ,Werktätigenräten' spricht, heißt es bei Kalinovká ,Betriebsräte', gemeint ist aber dasselbe Phänomen. Kalinovká macht ein großes Engagement der Arbeiter für den Reformprozess aus, vor allem seien die Gewerkschaften nach dem August 1968 eine wichtige Kraft der Resistenz gewesen.

Für Polen skizziert Andrea Genest die Märzereignisse 1968, als protestierende Studenten von der Polizei zusammengeschlagen wurden. Die Studierenden blieben weitgehend isoliert, und in Verbindung mit einer antisemitischen Ausweisungskampagne wurde der Protest schnell geschwächt. Das Verhalten der Arbeiter blieb ambivalent: Während es von Jüngeren zum Teil Unterstützungsaktionen gab, waren andere bei der Niederschlagung der Proteste über paramilitärische Gruppen beteiligt. Vor allem fand aber die antisemitische Propaganda Widerhall, weswegen Genest die Problematik verdeutlicht, die dieser ,,Erinnerungsort der Niederlage" für die polnische Gesellschaft darstellt: ,,Vielmehr müsste die Erinnerung an 1968 immer auch die Erinnerung an diejenigen einschließen, die die antisemitische Propaganda unterstützten." (S. 186). Marcin Zaremba will die kausalen Hintergründe beleuchten, die zum Arbeiteraufstand im Dezember 1970 an der polnischen Ostseeküste führten. Zentral ist für ihn, dass vor allem jüngere Arbeiter, die die Proteste prägten, von einem Gefühl der ,,relativen Benachteiligung" in materieller wie kultureller Hinsicht geprägt waren (S. 213). Dies belegt Zaremba anschaulich an Umfragen und Briefen von Arbeitern aus den gesamten 1960er Jahren.

Für die belgische Situation verdeutlicht Rik Hemmerijckx, dass das Kalenderjahr 1968 eher ereignislos war; die Studenten hatten 1965 über den für Belgien wichtigen Sprachenstreit härtere Auseinandersetzungen in Flandern geführt und sich zur Neuen Linken orientiert. Für Arbeiter waren die 1960er Jahren relativ streikarm, das Wirtschaftswachstum brachte Lohnerhöhungen in einem stark regulierten Verhältnis zwischen Gewerkschaften und Unternehmen. Erst Anfang der 1970er Jahre gab es einen Aufschwung an wilden Streiks, an der sich auch radikale studentische Parteien beteiligten, die Organisierung der Arbeiter zerbrach jedoch schnell wieder.

Die Konjunktur des Begriffs ,,autogestion" (Selbstverwaltung) zeichnet Frank Georgi für Frankreich nach. Aus dem jugoslawischen Sozialismus übernommen, wurde es in den sechziger Jahren konzeptionell in der Linken und den Gewerkschaften diskutiert, bis die Ereignisse des Mai 1968 es zum Schlagwort werden ließen. Besonders prominent wurde die Besetzung der Uhrenfabrik Lip in Besancon 1973, bei der die Arbeiter nicht nur die Produktion, sondern auch den Verkauf organisierten. Dies blieb jedoch die Ausnahme und war auch nur bei einigen kleineren Konsumgüterproduzenten möglich, Ausgangspunkt war in jedem Fall die drohende Schließung. Heute sei der Begriff nahezu völlig verschwunden.

Reiner Tostorff wendet sich der spanischen Erfahrung zu. Die Bedingungen der Diktatur erschwerten die Herausbildung einer Neuen Linken erheblich. Allerdings kam es 1962, ausgehend vom asturischen Bergbau, zu Bildung von Arbeiterkommissionen, die vor allem ökonomische Forderungen aus der Belegschaft vertraten. 1966 etablierten sich die Arbeiterkommissionen als nationale Bewegung, zumeist unter kommunistischer Federführung. Sie prägten den Arbeiterwiderstand gegen Franco Ende der sechziger Jahre. Tostorff verweist darauf, dass eine große Zahl der Neuen Linken aus der katholischen Jugend kamen, die sich stark radikalisierte.

Die letzten beiden Kapitel widmen sich Italien. Marica Tolomelli untersucht das Verhältnis zwischen Studenten und Arbeitern. Dies hätte sich von 1968 bis 1969 ,,dialektisch" entwickelt. Ab März 1968 orientierten sich die linken Studierenden auf die als revolutionär ausgemachte Arbeiterschaft. Diese Verbindung konnte einigermaßen erfolgreich hergestellt werden, hatte aber auch die Demobilisierung studentischer Belange zur Folge. Für die Arbeiter - insbesondere in den Industrienzentren Norditaliens - waren die antiautoritären Vorstellungen attraktiv, die in vielfältigen Aktionen in den ,,heißen Herbst" 1969 mündeten. Für Tolomelli spielen dabei studentische Einflüsse eine wichtige Rolle, aber auch Änderungsprozesse der scharf kritisierten Gewerkschaften. Für Vittorio Riesser steht das Verhalten der Gewerkschaften im Zentrum. Er widmet sich nur kurz der ersten Phase von 1967 bis 1969, als die Studentenbewegung politisch agierte und sich dann selbst auflöste, und geht auf den Einfluss der radikalen Linken auf die Gewerkschaftsbewegung in den 1970er Jahren ein. Die drei großen Gewerkschaften nahmen Einflüsse auf, aber vor allem die scharfe Ablehnung der Gewerkschaften durch die radikale Linke und ihre Überbetonung des Streiks führten strategisch in eine Sackgasse. Daher wandten sich viele Aktivisten den Gewerkschaften zu und bildeten einen linken Gewerkschaftsflügel, der jedoch nicht mehr der radikalen Kritik verhaftet blieb.

Die Herausgeber wünschen sich ,,nicht so sehr zufriedene als vielmehr produktiv herausgeforderte Leserinnen und Leser" (S. 21). Sie fordern zurecht mehr Forschungen zu sozialen Kämpfen und der Rolle von Arbeiterinnen und Arbeitern hierbei. Das der vorgelegte Sammelband hier eher erste Anregungen gibt als abschließende Wertungen, betonen die Herausgeber selbst. Es ist aber ein wichtiger Verdienst des Buches, der Vernachlässigung von Arbeiterkämpfen in der Forschung entgegenzuwirken. Die Länderartikel verdeutlichen - allerdings etwas disparat in der Motivwahl - , dass es in Europa eine auch von Arbeitern getragene Bewegung für mehr Gestaltungseinfluss und Demokratisierung gab.

Offen muss aber bleiben, ob die von den Herausgebern als Klammer vorgeschlagene Zäsurbildung trägt. Es erscheint sinnvoller, von einem politisierten und radikalisierten demokratischen Anspruch zu sprechen, der in den meisten europäischen Ländern auch die Aktionen der Arbeiterschaft prägte. Die beständigen Mühen, diese Entwicklung irgendwie an ,1968' anzuhängen, scheinen dabei langfristig nicht hilfreich. Horn bringt selbst einige sprachliche Beispiele, die diese Schwierigkeiten verdeutlichen, so wenn er schreibt: ,,dass die frühen 70er Jahre in den allermeisten Fällen der zeitliche Knotenpunkt proletarischen Engagements der Jahre um 1968 waren" (S. 32). Bereits Wolfgang Kraushaars Versuch, 1968 als Chiffre zu verstehen, wirkt über die kalendarische Zuschreibung als inhaltliche Klammer bemüht. (3) Es scheint, dass diese Jahreszahl erheblich überbewertet ist und mehr Emotionen als historische Erkenntnis birgt. Als intellektuelle Anstrengung scheint es notwendig, einen neuen Begriff zu suchen, als sich an einem medial verkürzten Schlagwort abzuarbeiten.

Knud Andresen, Hamburg

Fußnoten: