ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Stefan Goch (Hrsg.), Strukturwandel und Strukturpolitik in Nordrhein-Westfalen. (Schriften zur politischen Landeskunde Nordrhein-Westfalens 16), Aschendorff Verlag, Münster 2004, 415 S., kart., 14,80 €.

Die Bedeutung von Strukturwandel und Strukturpolitik in Nordrhein-Westfalen tritt dem aufmerksamen Beobachter immer wieder vor Augen. Vor dem Hintergrund tagesaktueller Diskussionen um das Auslaufen der Steinkohlesubventionen und die hiermit verbundenen Ewigkeitskosten oder die Schließung des Bochumer NOKIA-Werks wird häufig vergessen, dass nordrhein-westfälische Strukturpolitik bereits auf eine über 40-jährige Geschichte zurückschauen kann. Der vorliegende Aufsatzband stellt kritisch die Frage nach Erfolg und Misserfolg dieses Prozesses in NRW und zieht hierzu den Vergleich mit anderen Regionen heran. Den beteiligten Autoren gelingt es durchweg, ein informatives, vielschichtiges und nicht zuletzt analytisch anregendes Bild des Strukturwandels zwischen Rhein und Weser zu zeichnen.

Strukturpolitik in NRW bezieht sich keineswegs nur auf das Ruhrgebiet. So stellt Gerold Ambrosius direkt im Anschluss an die ausführliche Einführung in die Thematik und ihre Fragestellungen durch den Herausgeber Stefan Goch die unterschiedlichen Wirtschaftsregionen in ihrer historischen und wirtschaftlichen Entwicklung vor. Hierbei zeigt sich deutlich die Schwierigkeit, ,,ein wirtschaftsregionales Grundraster zu finden, an dem man sich angesichts der Heterogenität des rheinisch-westfälischen Wirtschaftsraumes orientieren kann." (S. 57) Die Gründung des Landes Nordrhein-Westfalen führte nach dem Zweiten Weltkrieg unabhängig von Landes- oder Provinzialgrenzen zu einem Zusammenschluss unterschiedlicher Wirtschaftsregionen unterschiedlicher Prägung und Herkunft. So sollte nicht zuletzt auch ein landespolitisches Gegengewicht zum niederrheinisch-westfälischen Industrierevier geschaffen werden. Dieses erwies sich in den ersten 20 Jahren nach der Landesgründung als gewaltiger Motor des ,,Wirtschaftswunders". Strukturhilfen gingen, wie Christoph Nonn nachweist, zunächst in die ländlichen Randregionen. Erst mit der Krise von Kohle und Stahl wandelte sich dieses Bild so nachhaltig, dass es heute die ursprüngliche Ausgangsposition wirtschaftlicher Strukturpolitik vergessen macht.

Die Überschriften der einzelnen Aufsätze spiegeln die historische Entwicklung und Ausrichtung der Strukturpolitik in Nordrhein-Westfalen anschaulich wider: ,,Gegen den Ballungsraum: Anfänge der Strukturpolitik (1946-1966)" (Christoph Nonn), ,,Krise und Aufbruch: Wirtschaft und Staat im Jahrzehnt der Reformen (1965-1975)" (Dietmar Petzina), ,,Wandel und neue Krisen: Die alten Industrien in den 1970er und 1980er Jahren" (Karl Lauschke), ,,Alte und neue Akteure: Neuorientierungen in der nordrhein-westfälischen Strukturpolitik seit den 1980er Jahren" (Stefan Goch), ,,Strukturkonservatismus und Innovation: Neue Handlungsansätze der Strukturpolitik in den 1980er und 1990er Jahren" (Franz-Josef Jelich) und ,,Know how vor Ort: Regionalisierung der Strukturpolitik seit den 1980er Jahren" (Dieter Rehfeld). Eine aktuelle Standortbestimmung von Wulf Noll und ein Beitrag zur Perspektive zukünftiger Wirtschafts- und Arbeitspolitik von Winfried Mengelkamp runden den ersten Hauptteil des Bandes ab, der sich durch eine hohe, aber gut lesbare Informationsdichte auszeichnet.

Ergänzt werden diese gründlichen Übersichtsartikel durch in einem Diskussionsteil zusammengefasste Einzelfallstudien. So stellt Martin Hennicke den Transformationsprozess, den die ehemalige Bundeshauptstadt Bonn nach der Verlagerung des Regierungssitzes nach Berlin durchlaufen hat, als durchaus gelungenes Beispiel für erfolgreichen Strukturwandel dar. Hayrettin Aydín schildert die Auswirkungen des Strukturwandels der Montanindustrie auf die Integrationsgeschichte türkischer Arbeitsmigranten. Die sich ändernden Rahmenbedingungen der Anwerbepolitik im Zusammenhang mit dem Niedergang der Schwerindustrie auf der einen Seite, die Hoffnung auf Rückkehr in das Herkunftsland als fester Bestandteil vieler individueller Lebenspläne auf der anderen Seite führten erst verzögert dazu, dass strukturpolitische Modelle, etwa die Förderung von Existenzgründungen, angenommen wurden und erst in den letzten Jahren auch in der Gruppe der türkischen Migranten an Bedeutung gewonnen haben. Gerade den Existenzgründern kommt aber innerhalb der strukturpolitischen Konzepte heute eine Schlüsselrolle zu. Der Erfahrungsbericht von Antje Rötger verweist auf die Chancen und Risiken, die mit diesem Konzept verbunden sind. Einen anregenden und mit einer gehörigen Portion Augenzwinkern gewürzten Beitrag liefert Andreas Schlieper. Unter dem Titel ,,The Ruhrgebiet - Reloaded" stellt er die Frage, was man, ,,wenn man es denn könnte, [...] in der Rurgebietspolitik wirklich anders [hätte machen können]? [...] Wo wäre jener Punkt in der Vergangenheit, [...] an dem das ganze Unglück seinen Lauf genommen hat, von dem aus alles schief gegangen ist?" (S. 361f) Der Versuch, eine Antwort auf diese Frage zu finden, führt auf eine Zeitreise, die den Leser mit vielen ,,Was wäre wenn?"-Fragen konfrontiert: Was wäre, wenn sich der industrielle Bergbau gar nicht erst entwickelt hätte und somit die Grundlagen für die Entstehung des Ruhrgebiets gefehlt hätten - was, wenn das Industrierevier nach dem ersten Weltkrieg an Frankreich und Belgien abgetreten worden wäre? Schlieper stellt angesichts dieser und weiterer Szenarien fest: ,,Die eigentliche Tragik der Politik für das Ruhrgebiet, so wie sie seit nahezu vier Jahrzehnten mit immer neuen Programmen und Projekten, Konferenzen und Gesellschaften betrieben wird, liegt darin, dass sie in allem höchst erfolgreich war, ohne jedoch ihre eigentliche Aufgabe zu lösen, nämlich auf Dauer Wachstum und Arbeitsplätze in der Region zu schaffen." (S. 372) Derartige Äußerungen regen zur Diskussion an und verweisen gleichzeitig auf die höchst unterschiedlichen Rahmenbedingungen, Ziele und Motive, in denen strukturpolitisches Handeln wirksam werden soll und muss.

Stefan Goch fasst diese Rahmenbedingungen abschließend nochmals zusammen. Sein Fazit lautet, dass ,,die Erfahrungen der Strukturpolitik in den nordrhein-westfälischen Regionen [gezeigt haben], dass es sinnvoll ist, auf die regionalen Potenziale zu setzen und diese zu stärken. Letztlich erscheint es kurzsichtig, die Entwicklungspotenziale in den Regionen nicht zu nutzen und stattdessen auf den kurzfristigen Gewinn von Kostenminimierung, Personalentlassung oder Verlagerung von Produktion in so genannte Billiglohnländer zu setzen." (S. 387-388) Mit dieser Feststellung wird wieder ein Bogen zum aktuellen Tagesgeschehen und zu Krisenerfahrung innerhalb des globalisierten Wirtschaftsgeschehens gezogen. Dem vorliegenden Sammelband gelingt es, die Geschichte des Strukturwandels in Nordrhein-Westfalen anschaulich und interessant darzustellen und Wesen und Nutzen strukturpolitischer Maßnahmen aufzuzeigen. Hierbei wird deutlich, dass der vielbeschworene Strukturwandel keineswegs nur ein Phänomen der letzten 40 Jahre war, sondern sich durch die gesamte Wirtschaftsgeschichte zieht. Entsprechend ist Strukturpolitik, will man die Entwicklung einer Gesellschaft nicht dem freien Spiel des Marktes überlassen, folgerichtig eine dauernde Aufgabe und Herausforderung.

Olaf Schmidt-Rutsch, Herne


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