ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Sigrid Oehler-Klein/Volker Roelcke (Hrsg.), Vergangenheitspolitik in der universitären Medizin nach 1945. Institutionelle und individuelle Strategien im Umgang mit dem Nationalsozialismus (Pallas Athene. Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte, Bd. 22), Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2007, 419 Seiten, geb., 69,00 €.

Die universitäre Medizin nach 1945 ist seit einigen Jahren verstärkt in das Blickfeld der vor allem medizinhistorisch motivierten Forschung gerückt. Jedoch waren dies entweder lokale Fallstudien zu medizinischen Fakultäten bzw. einzelnen Fachbereichen oder Studien, die den grundsätzlichen Übergang der Universitäten und Hochschulen vom Nationalsozialismus in die Nachkriegszeit untersuchten und dabei auch die Rolle der Medizin berücksichtigten. Dagegen ist es Sigrid Oehler-Klein und Volker Roelcke nunmehr gelungen, die vorhandenen Ergebnisse zu den medizinischen Fakultäten und anderen biomedizinischen Einrichtungen zu bündeln, unter der Fragestellung der institutionellen und individuellen Strategien im Umgang mit dem Nationalsozialismus zu fokussieren und damit der weiteren Forschung neue Anstöße zu geben.

Hierzu hatten die Herausgeber im Oktober 2005 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschiedlicher Ausrichtung in Gießen zusammengebracht. Wie so häufig bei Sammelbänden dauerte es dann über zwei Jahre, bis die lesenswerten Beiträge in adäquater Form publiziert werden konnten. Dies tut dem Werk insgesamt keinen Abbruch, denn die 15 Einzelbeiträge leisten wichtige Aufklärungsarbeit und bieten differenzierte Erklärungsansätze an.

Der Band ist neben der Einleitung der Herausgeber in drei große Blöcke aufgeteilt: Im ersten Untersuchungsbereich geht es um ,,Institutionelle und personelle Brüche und Kontinuitäten: Kontexte und Selbstbilder". Sabine Schleiermacher liefert einen sehr gelungenen Überblick über die universitäre Medizin nach dem Zweiten Weltkrieg, Carola Sachse berichtet aufschlussreich über die Forschungen zur Rolle der Wissenschaftseliten im NS-System am Beispiel der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und der Max-Planck-Gesellschaft. Erhard Geißler beschäftigt sich mit der Rolle der deutschen Biowaffenexperten nach dem Zweiten Weltkrieg und Udo Schagen erweitert mit dem Blick auf Berliner Hochschullehrer der Medizin die Perspektive auf die SBZ. Brigitte Leyendecker rückt mit Hans Voegt eine Einzelperson in den Vordergrund, um daran Netzwerkstrukturen der Hepatitisforscher vor und nach 1945 aufzuzeigen.

Der zweite Teil des Sammelbandes widmet sich der ,,Vergangenheitspolitik medizinischer Fakultäten in den verschiedenen Besatzungszonen". Die Fallbeispiele zur Medizinischen Fakultät der Berliner Universität (Andreas Malycha), zur Marburger Universitätsklinik (Kornelia Grundmann), zur Freiburger Universitätsmedizin (Hans-Georg Hofer), zur Tübinger Medizinischen Fakultät (Bernd Grün) und zur Medizinischen Akademie Düsseldorf (Frank Sparing) sowie zum Gießener Professor für ,,Erb- und Rassenpflege", Hermann Alois Boehm, (Sigrid Oehler-Klein) untersuchen differenziert und ausgewogen den Übergang von der Medizin im Nationalsozialismus in die Nachkriegszeit und die auch weiterhin spannende Frage nach dem Umgang mit dem nach Kriegsende weiterhin vorhandenen Personal im Allgemeinen und den in die NS-Politik involvierten Wissenschaftler im Besonderen. Ein wichtiges Thema bildet dabei die Remigration, wobei hier Frank Sparing am Düsseldorfer Beispiel exemplarisch verdeutlichen kann, wie halbherzig die Bemühungen der Fakultät waren, die seit 1933 aus ihrem Amt vertriebenen Wissenschaftler wieder zurück zu holen. Waren andere medizinische Fakultäten hier auch weiter, so hatten die insgesamt wenigen Remigranten aber insgesamt Situationen zu meistern, die es zukünftig noch differenzierter zu untersuchen gilt.

Einen besonderen Schwerpunkt legen die Herausgeber auf die universitäre Psychiatrie und deren personelle und konzeptionelle Kontinuitäten nach 1945, denen unter dem Titel ,,Universitäre Psychiatrie nach 1945 und der Umgang mit den Krankentötungen im Nationalsozialismus" ein eigener Block gewidmet ist. Maike Rotzoll/Gerrit Hohendorf untersuchen das Thema am Fallbeispiel der Heidelberger Psychiatrie, während Jürgen Pfeiffer die Phasen der Debatten über die Krankentötungen in Deutschland nachzeichnet und Franz Werner Kersting sich mit der Psychiatriereform und den Auseinandersetzungen mit der nationalsozialistischen Vergangenheit von 1955 bis 1975 auseinandersetzt. Auch in diesem Block gibt es mit Roland Müllers Untersuchung zu Ernst Kretschmer ein Fallbeispiel, um neben den allgemeinen Entwicklungslinien auch die individuelle Betrachtungsweise nicht zu vernachlässigen.

Aufgrund der Bandbreite der Beiträge fällt es schwer, ein inhaltliches Fazit zu ziehen, was die Herausgeber aber in der Einleitung versuchen. Sie sehen insgesamt ein ,,vielschichtiges Gesamtbild" (S. 12), wobei doch mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede zu konstatieren seien, etwa die in allen Besatzungszonen rasch vollzogene Integration belasteter Wissenschaftler und Ärzte aufgrund der desolaten Gesundheitsversorgung in den ersten Nachkriegsjahren. Die Besatzungsmächte verfolgten dabei zwar eine jeweils eigene Personalpolitik, jedoch wurden diese Vorstellungen rasch der gesundheitspoltischen Notsituation angepasst. Die in die Besatzungszonen entsandten Hochschuloffiziere der Alliierten waren, so ein weiteres Fazit, häufig wenig kompetent für die schwierige Aufgabe.

Auch wandten sich Fakultäten, die besonders eng in nationalsozialistische Maßnahmen involviert waren, rasch anderen Aufgaben zu. ,,Die eugenisch motivierten Zwangsmaßnahmen wurden [...] nicht als Unrecht wahrgenommen; der prinzipielle Widerspruch zu den im demokratischen Staat nun garantierten individuellen Grundrechten wurde nicht gesehen" (S. 15).

Insgesamt wurde die Auseinandersetzung mit der eigenen nationalsozialistischen Vergangenheit von den medizinischen Fakultäten, nach einer zumindest teilweise aktiveren Phase im direkten Umfeld des Kriegsendes, bis Anfang der 1960er-Jahre kaum vollzogen. Diese ,,Zeit der Stille" (S. 15) wandelte sich dann aber mit den ersten großen NS-Prozessen, einer Fragen stellenden Öffentlichkeit und nicht zuletzt durch eine neue Generation von Studierenden, die nunmehr genauer die NS-Vergangenheit betrachtete. Bis dato war es üblich, gemäß dem Urteil des Nürnberger Ärzteprozesses, von wenigen ,,schwarzen Schafen" auszugehen, die sich Verbrechen hatten zu Schulden kommen lassen, während damit zugleich der Rest der Mediziner und Ärzte aus der Verantwortung genommen wurde.

Der vorliegende Band ist insgesamt ein wichtiger Beitrag zur Auseinandersetzung der Medizin mit ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit und es bleibt die Hoffnung, dass zu den angestoßenen Fragen und Themen weitere Untersuchungen folgen werden.

Wolfgang Woelk, Düsseldorf/Koblenz


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