ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Ulrich Herrmann (Hrsg.), ,,Mit uns zieht die neue Zeit...". Der Wandervogel in der deutschen Jugendbewegung (Materialien zur Historischen Jugendforschung), Juventa Verlag, Weinheim/München 2006, 406 S., kart., 35,00 €.

Die deutsche, bürgerliche Jugendbewegung war ein Projekt der bürgerlichen Jugend und ihrer erwachsenen Förderer, die seit der Wende zum 20. Jahrhundert eine Antwort auf die Herausforderungen der Moderne suchten. Trotz Vorläufer in den 1890er-Jahren begann die Geschichte der bürgerlichen Jugendbewegung mit der offiziellen Gründung der ersten Wandervogelgruppe am Gymnasium in Berlin-Steglitz im November 1901. Anlässlich des 100. Jubiläums fand 2001 an demselben Ort ein Symposium statt. Daraus ging der vorliegende Aufsatzband hervor, der neben zahlreichen - auch längeren - Quellenzitaten historische Fotos und Quellendokumente wie z.B. Titelblätter von Liederbüchern enthält. Bedauerlicherweise fehlt jedoch ein Quellen- und Literaturverzeichnisses.

Anlass und Titel des Buches machen den Schwerpunkt der Aufsatzsammlung deutlich: die Geschichte des Wandervogels vor dem Ersten Weltkrieg. Die darauf folgenden Phasen der Freideutschen Jugend, die mit dem Ersten Freideutschen Jugendtag auf dem Hohen Meißner 1913 begann, und der Bündischen Jugend, die das Gesicht der bürgerlichen Jugendbewegung in den 1920er-Jahren prägte, spielen nur eine untergeordnete Rolle. Die Aufsätze sind drei Themenkomplexen zugeordnet: Der erste thematisiert die ,,Zeitgeschichtliche Verortung für den Wandervogel und die deutsche Jugendbewegung", der zweite ,,Das eigene Wollen: der ,neue Mensch' - der neue Lebensstil" und der dritte trägt den Titel ,,Utopie und Gesellschaft".

Die Aufsätze des ersten Themenkomplexes dienen der geistes-, kultur- sowie sozialgeschichtlichen Verortung. Ulrich Herrmann beginnt mit einem ausführlichen Überblick über die Anfänge des Wandervogels: Der Schwerpunkt seiner Darstellung ist der zeitgenössische Hintergrund mit seinen Widersprüchen (S. 32ff.) und dem aufblühenden Jugendkult. Den Wandervögeln, die die Ängste, Sorgen und Hoffnungen ihrer Zeit in sich trugen, sei es bei den Wanderungen um die Erfahrung der Natur als einer moralischen und ästhetischen Kategorie gegangen (S. 50f.). Als Alternative zur Jugendpflege sei der Aufbruch dieser bürgerlichen Jugend eine ,,Reise zu sich selbst" (S. 60) gewesen, wobei das Erlebnis der Gemeinschaft unter Gleichaltrigen das Charakteristische gewesen sei. In bewusster Abgrenzung zu der als marode empfundenen Gesellschaft sollten die Heranwachsenden die Möglichkeit erhalten, abseits von Elternhaus, Schule und Jugendfürsorge eigene Wege der Persönlichkeitsbildung zu beschreiten.

Justus H. Ulbricht betrachtet in seinem Aufsatz ,,Nietzsche als ,Prophet der Jugendbewegung'? Befunde zur Überlegung zu einem Rezeptionsproblem" diesen hinsichtlich seiner Wirkung in der bürgerlichen Jugendbewegung. Dabei weist er auf das methodische Problem hin, wie die Rezeption eines Autors untersucht werden kann. Schließlich kommt Ulbricht zum Schluss: Nietzsche war sicherlich vielen Jugendbewegten bekannt, deshalb von einer ausgesprochenen Nietzsche-Nähe zu sprechen, sei aber nicht zutreffend, gäbe es doch vor allem aus den 1920er-Jahren Quellentexte, die ,,eine deutliche Nietzsche-Ferne" (S. 110) ausdrückten. Dies könne jedoch nicht darüber hinweg täuschen, dass in der bürgerlichen Jugendbewegung völkisches, den ,,Herrenmenschen" propagierendes Schrifttum gelesen wurde (S. 94, vgl. auch Herrmann S. 75ff.). Diethart Kerbs eröffnet dem Leser in ,,Ästhetische Reformbewegungen um 1900" einen Einblick in andere bürgerliche Reformbewegungen der Zeit zwischen 1890 und 1910, die Linse als eine ,,Umbruch- und Wendezeit" (S. 115) bezeichnet. Zu nennen sind hier z.B. die Naturschutz- und Landschaftsschutzbewegung oder die Körperkulturbewegung. Das Bild über die zeitgenössischen Umstände vervollständigt Harald Scholtz: Er nimmt in ,,Der Wandervogel im Kontext der Jugendbewegung des Wilhelminischen Kaiserreichs" die ,,Ermöglichung eines solchen Aufbruchs [der Wandervögel, A.T.]" in den Blick - insbesondere durch die Unterstützung des jugendlichen Freiraums abseits der allgemeinen Sozialisationsinstanzen durch den Eltern- und Freundesrat (EUFRAT). Dabei berücksichtigt Scholtz auch die Positionierung des Wandervogels gegenüber den Pfadfindern und den Wehrkraftvereinen, die ebenfalls Einfluss auf die bürgerliche Jugend ausübten.

Der zweite Themenkomplex, der Einzelaspekte und Spezifika aus dem Wandervogel vor dem Ersten Weltkrieg erörtert, beginnt mit dem Aufsatz von Bernd Wedemeyer-Kolwe ,,Der ,neue Mensch' in seinem ,neuen Körper'. Jugendbewegung und Körperkultur". Wedemeyer-Kolwe konstatiert, dass der Wandervogel im zeitgenössischen Zusammenhang von Turnen, Sport und Körperkultur ein ,,mit seinem - intern nicht immer unumstrittenen - Körperkonzept einen Entwurf vorlegen [konnte, A.T.], der zwischen Eigenständigkeit und Rezeption angesiedelt" (S. 151) werden muss. Irmgard Klönne verfasste den Aufsatz ,,...nicht Wasser mehr und Feuer. Das Geschlechterverhältnis in der Jugendbewegung". Eine unkonventionelle Beziehung in die bürgerliche Jugendbewegung hineinzutragen, sei ein schwieriges Unterfangen für die Frauen und Mädchen gewesen: Vor dem Ersten Weltkrieg seien die antifeministischen Positionen Hans Blühers den Wunschvorstellungen der männlichen Wandervögel entgegengekommen. In den 1920er-Jahren hätten sich ,,soldatisch-heroische Männlichkeitsbilder" (S. 162) durchgesetzt - was auch zum Ausschluss der Mädchen aus vielen Bünden führte. Dennoch habe das jugendbewegte Kameradschaftsideal zur Entsexualisierung der Begegnung von jungen Frauen und Männern beigetragen. Obwohl nicht an den männlichen Privilegien und der polaren Geschlechterordnung gerüttelt wurde, sei auf praktischer Ebene die Erfahrung der jugendbewegten Gemeinschaft für die Mädchen und Frauen eine Befreiung gewesen. Das änderte jedoch nichts an der Tatsache, dass sich der Antiintellektualismus der bürgerlichen Jugendbewegung besonders für die Mädchen und Frauen negativ ausgewirkt habe, denn er erschwerte ihnen noch zusätzlich den Zugang zur Bildung.

In weiteren Aufsätzen werden die ,,Jugendbewegung als Reform der studentisch-akademischen Jugendkultur" am Beispiel der Ausbreitung der bürgerlichen Jugendbewegung auf die Universitäten gezeigt (Meike G. Werner), die Frage der Alkoholabstinenz thematisiert (Ulrich Linse) sowie das Liedgut der Bewegung untersucht (Helmut König und Stefan Krolle).

Der dritte Themenkomplex stellt schließlich die Frage, welche Spuren die bürgerliche Jugendbewegung hinterlassen habe. Roland Eckert (,,Jugend als Utopie: Der Wandervogel") und Jürgen Reulecke (,,Zum Selbstverständnis einer ,jungen Generation': Wo ist die Zukunft?") untersuchen ,,das utopische Potential der mit dem Wandervogel vor rund hundert Jahren ins Leben getretenen spezifisch deutschen bürgerlichen Jugendbewegung" (S. 309). Eckert konzediert, dass die Strukturen einer komplexen Gesellschaft nicht einfach durch Gemeinschaften ersetzt werden könnten - eine Erkenntnis, die der bürgerlichen Jugendbewegung vor 1933 gefehlt habe. Würde sich die jugendliche Selbsterziehung in der Gemeinschaft Gleichaltriger jedoch auf das Mitwirken in der Demokratie ausrichten, sei es ein gegenwarts- und zukunftstaugliches Konzept. Reulecke geht noch einmal auf die Zeit seit der Jahrhundertwende, auf die Zukunftsvorstellungen und Hoffnungen der dem Wandervogel wohlgesonnenen Erwachsenen, ein. Die vier Aufsätze, mit denen der Sammelband schließt, geben Beispiele von Einflüssen der bürgerlichen Jugendbewegung auf gesellschaftliche Teilbereiche.

Ziel dieses Sammelbands ist es, den Wandervogel zum 100. Jubiläum als Teil der deutschen Jugendbewegung und der kulturkritischen, bürgerlichen Reformbewegungen zu würdigen. Daher wurde die Darstellung der Sonnenseiten der kritischen Erörterung der Schattenseiten der Geschichte vorgezogen. Im Vorwort heißt es dazu: Das Jubiläum erschien nicht als geeignet, den Zuspruch der Wandervögel zum völkischen Gedankengut erneut zu erörtern - zumal völkisches und antisemitisches Gedankengut nicht zu den Charakteristika des Wandervogels gehört hätten (S. 8f.). Antisemitisches Denken war im frühen Wandervogel zwar nicht mehrheitsfähig, aber der Antisemitismus hinterließ doch deutliche Spuren - wie Andreas Winnecken (1991) und Christian Niemeyer (2001) gezeigt haben.1 Und Ulrich Herrmann resümiert, dass die Wandervögel ,,an der Hinwendung zu ,Natur' und ,Volkstum', häufig genug auch - zumeist unbemerkt - zu Nationalismus und Militarismus" (S. 75) teilgenommen hätten.

Aus heutiger Sicht kann festgestellt werden, dass trotz Verbindungen zu den irrationalen und antimodernen Ideologien der Zeit kein geradliniger Weg vom Wandervogel zum Nationalsozialismus geführt hat. Um Schnittmengen sowie Differenzen herauszuarbeiten, wäre es allerdings wichtig gewesen, in einem Aufsatz das komplexe Beziehungsgeflecht zwischen Wandervogel und Bündischer Jugend auf der einen Seite und den völkischen und antisemitischen Strömungen auf der anderen Seite in den Grundzügen offen zu legen.

Um sich mit dem Wandervogel zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu befassen, ist das Buch zu empfehlen. Es wird deutlich, dass die Wandervögel in ihrem Bemühen um Alternativen Kinder ihrer kulturkritisch gestimmten Zeit waren. Als kulturelle Opposition gingen sie auf Distanz zu konventionellen Lebenswelten, doch das Konzept der individuellen Reform vernachlässigte etwas, was den Wandervögeln nach dem Ersten Weltkrieg den Zugang zur Weimarer Republik erschwerte: die Erziehung des mündigen, demokratisch denkenden Staatsbürgers.

Ann-Katrin Thomm, Münster


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