ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Bernd Jürgen Warneken (Hrsg.), Volksfreunde. Historische Varianten sozialen Engagements. Ein Symposium (Untersuchungen des Ludwig-Uhland-Instituts der Universität Tübingen, Bd. 103), Tübinger Vereinigung für Volkskunde, Tübingen 2007, 398 S., kart., 25,00 €.

Entsprungen ist diese Artikel- bzw. Vortragssammlung einem Symposium, das zum 60. Geburtstag des Herausgebers Bernd Jürgen Warneken, Professor am Ludwig-Uhland-Institut der Universität Tübingen, stattfand. Die schriftlichen Fassungen sind nun in diesem Sammelband nachzulesen.

Die verschiedenen Beiträge beschreiben und analysieren unterschiedliche, zum Teil gegensätzliche Formen des Engagements für soziale Unterschichten sowie Widersprüche innerhalb der einzelnen Positionen und Strategien der Volksfreunde. Wer ist ein Volksfreund? In der Definition Warnekens sind es ,,Angehörige der sozialen Mittel- und Oberschichten, die sich cum studio, aber sine ira mit den Unterschichten befassen - beruflich oder ehrenamtlich" (S. 379) und die den unterprivilegierten Sozialgruppen eine gewisse Sympathie entgegenbringen.

Als Einleitung und thematischen Einstieg stellt der Herausgeber eine Liste von Zeitungen oder Kalendern aus den letzten 200 Jahren vor, die allesamt den Begriff Volksfreund im Titel tragen. Der Band ist in zwei Teile gegliedert: Volksfreundschaft, Volkserziehung, Volksgemeinschaft. Von der Aufklärung bis zum Nationalsozialismus und Paternalismus, Populismus, Kooperation. Vom 20. ins 21. Jahrhundert. Die einzelnen Beiträge zeichnen ein facettenreiches Bild von Volksfreundschaft: ,,Hilfsmaßnahmen und Bündnisstrategien [...] karitative und revolutionäre Zielsetzungen, sozialistische und nazistische Überzeugungen, politische Reformen und unternehmerische Initiativen" (S. 379).

Unter der Überschrift Amor patriae, amor populi untersucht Wolfgang Kaschuba die Volksfreundschaft Ernst Moritz Arndts, und Hanns-Werner Heister beleuchtet Verdis Zuwendung zu unteren sozialen Schichten, beispielsweise durch die Aufnahme von Elementen popularer Musik in seinen Opern. Von Volksverbundenheit sprechen Utz Jeggle und Hermann Bausinger in ihren Beiträgen über den Dichter und ethnographischen Feldforscher Berthold Auerbach und den Tübinger Philosophen Theodor Haering. Weniger um Anerkennung als um erzieherische Wohltätigkeit geht es in den Aufsätzen von Silke Göttsch über die literarische Selbstinszenierung zweier landadliger Frauen um 1800 in Schleswig-Holstein, von Ulrike Pfeil über die Tübinger Volksfreundin und Frauenrechtlerin Mathilde Weber und von Kaspar Maase über Hamburger Lehrer um Heinrich Wolgast und deren Kampf für ,,Kunst für die Kinder des Volkes" (S. 133) und gegen ,,Schund[literatur]" (S. 139). Als ,,kapitalistischen Propheten" (S. 159) mit volksfreundlichen Zügen beschreibt Christoph Deutschmann den Unternehmer Henry Ford (Volks- als Kundenfreundlichkeit). Unter der Überschrift Führungsdienste an der Arbeiterschaft ist eine weitere Variante sozialen Engagements thematisiert: Michael Hofmann schildert das Verhältnis DDR-sozialistischer Bildungsaufsteiger zur Arbeiterschaft; um unterschiedliche Führungs- und Politikstile geht es Reinhard Bahnmüller in seinem Aufsatz über die Gewerkschaftsführer der IG-Metall in Baden-Württemberg Willi Bleicher, Frank Steinkühler und Walter Riester, und Werner Schmidt stellt mit dem Sozialisten Fritz Lamm einen ,,heimatlose[n]" (S. 205), politisch links stehenden Volksfreund vor. Klientelorientierung und Volksverbundenheit kennzeichnen die Patronagebeziehungen, die Thomas Hauschild und Annemarie Gronover beschreiben: Der Pate, der seiner Klientel ein ganzes ,,Lebenshilfe-Paket" anbietet und dafür ,,lebenslange Loyalität" einfordert, und der mit dem mafiosen Paten kulturell verwandte, sozial aber mit ihm verfeindete Antimafiapriester, der für soziale Absicherung Anerkennung und Unterstützung als geistlicher Führer verlangt (S. 388). Der Frage, ob auch Massenmedien Volksfreunde sein können, gehen Götz Bachmann und Andreas Wittel in ihren Beiträgen über Radio und Fernsehen nach. Wie breit das Spektrum von Volksfreundschaft ist, zeigen auch die Beiträge zum Thema Von der Patenschaft zur Partnerschaft: Stefan Becks Porträt des zypriotischen Arztes Minas Hadjiminas, der Präventionsmaßnahmen gegen die genetisch mitbedingte Krankheit Thalassämie durchzusetzen suchte und dabei Rücksicht nahm auf ländliche Wertsysteme und Gewohnheiten, Gisela Weltzs Bericht über den zypriotischen Agrotourismus-Unternehmer Sofronis Potamitis als ,,Volksfreund in der Kategorie des unternehmerischen Wohltäters" (S. 341), Katrin Pallowskis Aufsatz über den demokratisch-pragmatischen Architekten und Pionier der partizipativen Bauweise Lucien Kroll und Irene Döllings Bericht über die Sozialpsychologin und bekannte Vertreterin der Frauen- und Geschlechterforschung Regina Becker-Schmidt.

Das bunte ,,Treiben auf dem ,Platz der Volksfreundschaft'" (S. 380) bündelt der Herausgeber in seinem Nachwort zu drei Themenkomplexen: Varianten der Anerkennung, Varianten der Volkserziehung bzw. -pädagogik und Volks- und Eigennutz. Anerkennung und Denunziation, autoritäre und partizipative Formen des sozialen Engagements sowie Altruismus und Egoismus spiegeln die Janusköpfigkeit der Volksfreundschaft wider. Wie ist es um deren Aktualität bestellt? ,,Der Begriff ,Volksfreund' und manches an dem darin ausgedrückten Gestus ist, so wurde eingangs gesagt, veraltet. Das aus eigenem Antrieb und in eigener Verantwortung geleistete Engagement für soziale Unterschichten ist es nicht" (S. 389). Volksfreundschaft im besten Sinne bedarf - so Warneken - der gelungenen Kooperation, des Willens zur gegenseitigen Anerkennung, des intersozialen Wissens und unter Umständen eines Dolmetschers wie zum Beispiel der Empirischen Kulturwissenschaft (S. 390).

Gerade in Zeiten von Globalisierung, Individualisierung und Kostenexplosion der sozialen Sicherungssysteme zeigt sich die Relevanz sozialen, zivilgesellschaftlichen Engagements. Ein Blick auf historische Varianten von Volksfreundschaft lohnt sich also. Der Sammelband greift ein gesellschaftspolitisch aktuelles Thema auf. Negativ zu Buche schlägt allerdings, dass die zentralen Schlüsselbegriffe Freund, Volk und Nation nicht sauber definiert sind. Folge dieses Mangels sind semantische Wirren und eine gewisse Werte- und Methodenbeliebigkeit. Es ist auch wenig verständlich, dass Warneken wie alle anderen Autoren nicht auf die in alemannischer Nachbarschaft doch so nahe liegenden wahren, tiefen Volksfreunde Jeremias Gotthelf und Johann Peter Hebel eingeht. Vor allem Johann Peter Hebel, der Hausfreund, wäre eine klare Bezugsinstanz, um Ordnung in den schillernden Begriff Volksfreund und seine oft missbrauchten Verwendungsfelder zu bringen.

Judith Gurr, Freiburg


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