ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Christoph Maria Merki, Wirtschaftswunder Liechtenstein. Die rasche Modernisierung einer kleinen Volkswirtschaft im 20. Jahrhundert, Chronos Verlag, Zürich 2007, 342 S., 29,90 €.

Eine Rezension über das ,,Wirtschaftswunder" Liechtenstein zu schreiben, ohne sie mit einer Bemerkung über den Finanzplatz und dessen Bedeutung für den wirtschaftlichen Aufstieg des Fürstentums zu beginnen, fällt schwer. Zu frisch sind noch die Erinnerungen an die medienwirksam inszenierte Jagd nach Steuersündern in Deutschland und den damit verbundenen Vorwurf, Liechtenstein würde die Steuerhinterziehung von deutschen Staatsbürgern begünstigen. Dass das Buch von Christoph Maria Merki über diese (keineswegs neue) Problematik hinausreicht, und neben dem Finanzplatz auch die Landwirtschaft, das Gewerbe und die Industrie sowie den öffentlichen Sektor untersucht, ist eine der Stärken dieser Publikation.

Merki geht der Frage nach, wie das Fürstentum - als der viertkleinste Staat Europas mit gerade einmal 35.000 Einwohnern (und einem Ausländeranteil von 35 Prozent) - nach einer längeren Stagnationsphase durch den Ersten Weltkrieg und die Weltwirtschaftskrise nach dem Zweiten Weltkrieg innerhalb weniger Jahrzehnte zu einem der reichsten Länder der Welt aufsteigen konnte. Neben der zumindest für Einzelbereiche vorhandenen Forschungsliteratur basiert die Arbeit dabei auf diversen Quellen aus dem Liechtensteinischen Landesarchiv, dem Schweizerischen Bundesarchiv, Publikationen der Regierung sowie der erst 1936 beziehungsweise 1947 gegründeten Liechtensteinischen Gewerbe- und Wirtschaftskammer (GWK) sowie der Liechtensteinischen Industrie- und Handelskammer (LIHK). Was die Aussagekraft des vorhandenen Zahlenmaterials betrifft, ist allerdings eine wichtige Einschränkung zu machen: Seit der Einbettung Liechtensteins in den schweizerischen Wirtschaftsraum und dem Inkrafttreten des Zollvertrages mit der Schweiz 1924 werden die Warenströme von und nach der Schweiz nicht mehr erfasst, sodass weder eine verlässliche Aussenhandelsbilanz noch ein zuverlässiges Bruttoinlandsprodukt erstellt werden können.

Was die Entwicklung der einzelnen Sektoren betrifft, fällt auf, dass der Sprung vom Agrar- zum Industriestaat - abgesehen von einigen Textilfabriken - erst in den 1930er-Jahren gelang. Während der Agrarsektor trotz einer stark steigenden Produktivität und fortschreitenden Mechanisierung im Verlauf des 20. Jahrhunderts kontinuierlich an Bedeutung verlor, wurde seit den 1930er-Jahren auch die Textilindustrie durch die Gründung neuer Metall-, Maschinen- und Apparatebauunternehmen (wie Hoval, Hilti oder Scana, heute: Hilcona) immer mehr an den Rand gedrängt. Das mit Abstand wichtigste Unternehmen ist die inzwischen weltweit tätige Hilti AG mit rund 18.000 Beschäftigten und einem Umsatz von 4.1 Milliarden Franken (2006), was etwa dem Bruttoinlandsprodukt von Liechtenstein entspricht. Noch 1999 erbrachten die Industrie und das warenproduzierende Gewerbe 40 Prozent der gesamten Wertschöpfung (gefolgt von den Finanzdienstleistungen mit 29.5 Prozent), eine Zahl, die indirekt allerdings wieder mit der Bedeutung des Finanzplatzes - den niedrigen Zinsen und einer moderaten Besteuerung der Unternehmensgewinne - zu erklären ist. Die Basis für den Aufstieg des Finanzplatzes wurde mit der Schaffung eines neuen Steuer- und Gesellschaftsrechts nach den Plänen des Schweizer Ökonomen Julius Landmann bereits in den 1920er-Jahren gelegt. Seither können in Liechtenstein sogenannte ,,Sitzunternehmen" gegründet werden, die hier lediglich ihren Sitz haben und über die ,,Beteiligungen und Vermögenswerte ausländischer Herkunft auf steuergünstige Art und Weise" (S. 136) verwaltet werden. War die Zahl der Sitzunternehmen - wie die Zahl der Banken - bis nach dem Zweiten Weltkrieg relativ klein geblieben, kam es danach parallel zur Erhöhung der Sorgfaltspflicht und einem verstärkten Kampf gegen die Geldwäscherei zu einem kontinuierlichen, außergewöhnlich starken Wachstum. Die Zahl der ,,Sitzunternehmen" erhöhte sich von rund 1.000 (1945) auf 53.000 (1983) und 84.000 (im Jahr 2000). Hatte die liechtensteinische Regierung die Zulassung neuer Banken zwischen 1960 und 1991 noch verhindert, um zu vermeiden, ,,dass die ausländische Politik auf die Steueroase Liechtenstein aufmerksam wurde" (S. 177), wurden danach mehrere neue, in- und ausländische Banken gegründet. Die Annäherung Liechtensteins an die Europäische Gemeinschaft und der Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) 1995, führten dabei - trotz der bereits erwähnten Klagen über die Steueroase Liechtenstein - erstaunlicherweise nicht zu einer Schwächung, sondern eher zu einem Ausbau des Finanzplatzes.

Den wirtschaftlichen Erfolg Liechtensteins begründet Merki mit zwei zentralen Mechanismen: erstens dem ,,Outsourcing staatlicher Aufgaben" - der Tatsache, dass das Land eine Reihe öffentlicher Ausgaben (vom Militär, über die Universitäten bis zum Verkehr) an seine Nachbarstaaten auslagert - sowie zweitens der ,,Kommerzialisierung der Souveränität" (S. 181), die vom lukrativen Verkauf von Briefmarken über niedrige (zum Teil pauschale) Steuern bis zu sogenannten ,,Finanzeinbürgerungen" vermögender Ausländer, die insbesondere in den 1920er- und 1930er-Jahren praktiziert wurden, reichte. Dass die Schweiz bereit war, viele der öffentlichen Aufgaben zu übernehmen, dürfte aber nicht zuletzt damit zusammenhängen, dass man Liechtenstein auch als eine ,,Art Außenstelle des Finanzplatzes Zürich" (S. 137) verstehen kann. Die meisten der in liechtensteinischen Sitzunternehmen verwalteten Gelder wurden auf Schweizer Banken angelegt, die - umgekehrt - auch die ,,wichtigsten Zuträger ausländischer Klienten" (S. 146) für den Finanzplatz Liechtenstein waren.

Insgesamt ermöglicht das Buch von Christoph Maria Merki einen guten und weit gefächerten Überblick über die rasche wirtschaftliche Entwicklung Liechtensteins im 20. Jahrhundert. Eine vertiefte Auseinandersetzung mit der gerade in den letzten Jahren noch einmal deutlich gewachsenen Bedeutung des Finanzplatzes - insbesondere aus einer international vergleichenden Perspektive oder mit Blick auf die Gesetzgebung und die Entwicklung anderer Finanzzentren - sucht man allerdings vergeblich. So ist die Zahl von heute rund 80.000 Sitzgesellschaften zwar eindrucksvoll, die für eine Eindordnung des Finanzplatzes in den internationalen Kontext wichtige Höhe der verwalteten Gelder bleibt jedoch im Dunkeln (beziehungsweise wird von Merki auf mindestens 200-300 Milliarden Franken geschätzt). Dies ist aber weniger dem Autor, als vielmehr den fehlenden oder unzugänglichen Daten und dem nach wie vor ambivalenten Verhältnis des Fürstentums zu seiner eigenen Geschichte anzulasten. Wurden die Finanzbeziehungen Liechtensteins im Zweiten Weltkrieg von einer mit einem Archivprivileg ausgestatteten unabhängigen Historikerkommission in den letzten Jahren breit erforscht, spricht Merki mit Blick auf den Finanzsektor nach wie vor von einer ,,Bunker- und Belagerungsmentalität" (S. 23). Der Zugang zu entsprechenden Quellen wurde ihm aus Geheimhaltungsgründen schlicht verweigert; für das Ansehen des Bankenplatzes und eine klarere Unterscheidung zwischen juristisch legalen und moralisch legitimen wirtschaftlichen Aktivitäten wäre es jedoch hilfreich, wenn die Verantwortlichen in Zukunft nicht mehr in jedem Historiker einen ,,verantwortungslosen Schnüffler" (S. 23) zu erkennen glaubten.

Roman Rossfeld, Zürich


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