ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Christof Mauch/Thomas Zeller (Hrsg.), The World beyond the windshield. Roads and Landscapes in the United States and Europe, Ohio University Press, Athens 2008, 283 S., Leinen, geb., 36,00 € (paperback € 20,99).

Das Verhältnis von Straßen und Landschaft steht im Zentrum dieses Sammelbandes, der aus einer Konferenz am Deutschen Historischen Institut in Washington entstand. Nachdem Wolfgang Schivelbusch vor mehr als 20 Jahren die Entstehung des panoramischen Blicks auf die Landschaft durch die Fahrt mit der Eisenbahn darstellte, befassen sich die Autoren dieses Bands mit der Bedeutung der automobilen Windschutzscheibenperspektive und der Gestaltung der Straßen für die Landschaftswahrnehmung in der heutigen Welt. Die deutschen, amerikanischen, italienischen und britischen Autoren beschränken sich nicht auf den objektiven Landschaftswandel und die subjektive Landschaftswahrnehmung durch die Autofahrer und beziehen die technologischen, sozialen und ästhetischen Wandlungsprozesse in der Gesellschaft als Folge des Straßenbaus in ihre Fragestellungen ein.

Während ein Teil der Aufsätze über die umweltgeschichtliche Leitfrage im Titel des Sammelbandes hinausreicht, bleiben andere Beiträge hinter ihren selbstgesteckten Ansprüchen zurück. Mehrere Beiträge amerikanischer Landschafts- und Umwelthistoriker (Timothy Davis, Anne Mitchell Whisnant und Suzanne Julin) beschäftigen sich mit der Inszenierung von Landschaften für Autofahrer durch eine amerikanische Sonderform des Straßenbaus, die ,,Parkways". Mit den Parkways erschlossen amerikanische Straßenbauer vor allem in den 1930er- und 1940er-Jahren vorstädtische Parklandschaften und romantische Berglandschaften für den Erholungs- und Urlaubsverkehr. Im Unterschied zum europäischen Straßenbau waren die Parkways ausschließlich dem Freizeitverkehr gewidmet und schlossen den Wirtschaftsverkehr mit LKW von der Mitbenutzung aus. Anne Mitchell Whisnant zeigt am Beispiel des berühmten Blue Ridge Mountain Parkway durch die Appalachen sehr eindrücklich, dass die Straßenplaner die Landschaft durch eine ausgefeilte Linienführung für den Blick durch die Windschutzscheibe und von den Parkplätzen entlang der Strecke inszenierten. Da Siedlungen bis auf einzelne Gehöfte umgangen wurden, vermittelte der Blue Ridge Parkway den täuschenden Eindruck einer vorindustriellen pastoralen Landschaft, die der Wirklichkeit in den Appalachian Mountains schon lange nicht mehr entsprach. Die Linienführung abseits der Dörfer und Städte und das Benutzungsverbot für LKW zeigten, dass der Blue Ridge Parkway fast ausschließlich für die Bedürfnisse der touristischen Nutzer geplant wurde und die wirtschaftlichen Erschließungs- und Entwicklungsinteressen der Anwohner bewusst vernachlässigte.

Demgegenüber wird ein Beitrag des amerikanischen Deutschlandhistorikers Rudy Koshar (,,Driving cultures and the meaning of roads. Some comparative examples") seinem ambitionierten Titel nicht gerecht. Eine historisch-systematische Untersuchung über die Herausbildung der unterschiedlichen Fahrweisen (oder Fahrkulturen) in den USA und Deutschland bleibt in Ansätzen stecken, obwohl der Unterschied zwischen dem entspannten amerikanischen ,,cruising" und des angespannt-sportlichen Fahrstils deutscher Autofahrer eine große Bedeutung in einer vergleichenden Alltagsgeschichte des Autofahrens spielen müsste. Koshar reißt die reizvolle Frage nach der zeitverzögerten Herausbildung einer automobilen Zivilität im deutschen Straßenverkehr - im Vergleich zu den USA - kurz an, ohne sie systematisch zu verfolgen. Der heuristisch sinnvolle Paradigmenwechsel von einer Geschichte der Verkehrsinfrastrukturen und ihrer technisch-administrativen Implementationsprozesse zu einer akteursorientierten Nutzungsgeschichte der Straßen ist begrüßenswert. Sein Hinweis, dass Autofahrer sich gleiche oder vergleichbare Straßenarten wie amerikanische Interstate Highways und deutsche Autobahnen für ganz unterschiedliche Formen und Kulturen des Autofahrens angeeignet haben, geht in die richtige Richtung. Leider führt Koshar diese Hypothese über den Eigen-Sinn der Straßennutzer nur am Beispiel der jugendlichen Subkulturen (,,Joyrider") in den USA aus, obwohl auch der Auto fahrende Mainstream in der amerikanischen und in der deutschen Gesellschaft spezifische kulturelle Aneignungsformen der Straßen-Infrastrukturen entwickelte.

Die Beiträge der deutschen Autoren (Axel Dossmann und Thomas Zeller) zum Autobahnbau in der DDR und zum Verhältnis von Autobahnbau und Landschaftsgestaltung im ,,Dritten Reich" und in der Bundesrepublik sind intellektuell anregende und gut lesbare Zusammenfassungen ihrer Dissertationen, die beide Autoren vor einigen Jahren veröffentlicht haben. Dossmann und Zeller unterziehen die Planungsmethodik der Autobahnbauer einem synchronen Vergleich zwischen der DDR und der BRD bzw. den USA und dem nationalsozialistischen Deutschland und einem diachronen Vergleich zwischen den beiden deutschen Staaten. Leider haben die Herausgeber in ihrem Vorwort auf eine explizite internationale Vergleichsperspektive verzichtet. Das heuristische Potenzial einer multiperspektivischen vergleichenden Straßengeschichte wird im Vorwort leider nur in Ansätzen entwickelt.

Fazit: Der Sammelband demonstriert die vielfache Anschlussfähigkeit der Verkehrsgeschichte an die Geschichte der Alltagskultur, die Umweltgeschichte und den Wandel in der Wahrnehmung der Umwelt. Trotz einiger hoffnungsvoller methodischer Ansätze sind die Sozialgeschichte und die Kulturgeschichte des Autofahrens noch nicht geschrieben. Sie bleiben eine große Herausforderung für eine kulturgeschichtlich erweiterte Gesellschaftsgeschichte des Verkehrs.

Christopher Kopper, Bielefeld


DEKORATION

©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE 8. Oktober 2008