ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Die Europäische Kommission 1958-1972. Geschichte und Erinnerungen einer Institution, hrsg. v. Michel Dumoulin, Amt für Amtliche Veröff. der. Europäischen Gemeinschaften, Luxemburg 2007, 669 S., kart., 32,10 €.

Als Altiero Spinelli im Jahr 1966 seine viel zitierte kritische Darstellung zur europäischen Einigung vorlegte (1), übertitelte er sie in der englischen Version kritisch: ,,The Eurocrats". Gemünzt war der Begriff in erster Linie auf die ,,funktionalistischen Technokraten" in der Europäischen Kommission, die von Spinelli dafür verantwortlich gemacht wurden, dass sich die europäische Integration nicht zu jener bürgernahen Föderation entwickelte, die dem glühenden italienischen Integrationsbefürworter vorschwebte. Spätestens seit diesen Tagen hat sich die Brüsseler ,,Eurokratie" fest in das Bild von der europäischen Einigung eingebrannt, während die Europäische Kommission in der allgemeinen Wahrnehmung zur Zielscheibe der Europakritik avancierte.

Trotz einer an Intensität und Differenzierung weiter zunehmenden Integrationsforschung liegen bisher kaum wissenschaftliche Studien vor, die Belege liefern, ob und inwieweit das kritische Bild von der Europäischen Kommission einer näheren Betrachtung standhält. Während die Hohe Behörde der Montanunion _ nicht zuletzt aufgrund der Studie von Spierenburg und Poidevin _ als vergleichsweise gut erforscht gelten kann (2), steht eine übergreifende historische Studie für die Europäische Kommission noch aus. Vor allem über die internen Strukturen der Europäischen Kommission und ihre Akteure ist wenig bekannt. Bisher bereitete es schon Schwierigkeiten, überhaupt einen zuverlässigen Faktenüberblick zu einzelnen Kommissionen sowie zu Amtsdauer und Zuständigkeitsbereichen der Kommissare zu erhalten. Vor diesem Hintergrund ist es zu begrüßen, dass auf Anregung des früheren Generalsekretärs der Europäischen Kommission, David O'Sullivan, ein Projekt zur Aufarbeitung der Geschichte der Europäischen Kommission ins Leben gerufen wurde, das den Zeitabschnitt bis zur ersten Erweiterungsrunde der Gemeinschaft im Jahr 1973 abdeckt. Besonderes Interesse verdient diese Initiative aber auch, weil der Projektauftrag mit der Zielsetzung verbunden wurde, die Binnenperspektive der Europäischen Kommission in den Mittelpunkt zu rücken und zu diesem Zweck eine umfangreiche Befragung früherer Beschäftigter der Kommission durchzuführen.

Realisiert wurde das Projekt von einem Team renommierter Integrationshistoriker, die auch den Kern des ,,European Liaison Committee of Historians" bei der Europäischen Kommission bilden. Unter der Leitung des belgischen Geschichtswissenschaftlers Michel Dumoulin orientierte sich das Projekt eng an dem Ziel, auf Grundlage bisheriger und neuer Forschungen, vor allem aber durch die Erkenntnisse von 120 Interviews mit ehemaligen Kommissionsbediensteten, eine Geschichte der Europäischen Kommission zu erstellen, die in erster Linie die Entwicklung der Binnenstrukturen der Europäischen Kommission beleuchtet. Entstanden ist so ein 669 Seitenstarkes Buch mit ungewöhnlichem Charakter: Auf der einen Seite stellt die Publikation die bisher wohl vollständigste und detaillierteste historische Betrachtung der Europäischen Kommission dar; auf der anderen Seite kann man nicht im üblichen Sinne von einer kritischen wissenschaftlichen Studie sprechen. Dies lässt sich allein schon auf die Verantwortlichkeiten zurückzuführen: Die Publikation ist zwar keine offizielle Kommissionsverlautbarung, hat aber - nicht zuletzt angesichts eines ,,Überwachungsausschusses" der Europäischen Kommission - gewissermaßen offiziösen Charakter und wird auch von der Kommission selbst vertrieben. Dennoch haben die beteiligten Historiker keine Legitimationsschrift verfasst, sondern ihre kritische historiografische Sicht mit der subjektiven Perspektive der Zeitzeugen verwoben und so zahlreiche Einzelheiten dokumentiert, die bisher in dieser Form nicht von der Geschichtsschreibung erfasst wurden.

Der Band gliedert sich in zwei große Hauptabschnitte mit 13 bzw. 14 Kapiteln: Während im ersten Block vor allem die Organisationsstrukturen und die handelnden Akteure _ so etwa die Kommissionspräsidenten und weitere Persönlichkeiten wie der langjährige Generalsekretär Émile Noël _ im Blickfeld stehen, richtet der zweite Abschnitt das Augenmerk stärker auf einzelne Politikbereiche. Dabei werden in beiden Teilen eine Fülle von Einzelergebnissen und -einschätzungen zu Tage gefördert, die als Baustein für weiterführende Analysen zur Europäischen Kommission den eigentlichen Wert der Publikation ausmachen. Jenseits der zahlreichen Detailerkenntnisse lassen sich aber auch einige grundlegende Ergebnisse bilanzieren: So wird deutlich, dass die EWG-Kommission, die weitaus stärker als ihr Euratom-Pendant im Mittelpunkt der Publikation steht, in vielerlei Hinsicht an die Erfahrungen und Strukturen der Hohen Behörde angelehnt war. Unter anderem aufgrund der gegenüber der Höhen Behörde variierenden Entscheidungskompetenzen, der Ansiedlung in Brüssel und der Rolle Walter Hallsteins, der den Aufbau der neuen Institution engagiert vorantrieb, entwickelte die Kommission aber rasch eine beträchtliche Eigendynamik.

Aus den Interviews geht hervor, dass die Kommissionsbediensteten vielfach mit einer pro-europäischen Zielsetzung nach Brüssel kamen. Deutlich wird auch, dass gerade in der Anfangsphase zum Teil erhebliche Spielräume bestanden, die neuen, noch nicht formalisierten Arbeitsstrukturen mit Leben zu füllen. Vor allem das konsequente Bemühen, den Vorrang des supranationalen Gemeinschaftsrechts gegenüber den nationalen Rechtsordnungen durchzusetzen, bildete ein zentrales Leitmotiv der Kommissionsgeschichte, das nicht zuletzt durch die enge Kooperation mit dem Gerichtshof erreicht wurde. Rasch kristallisierte sich in Brüssel auch eine Art ,,esprit de corps" heraus, der einen wachsenden Zusammenhalt, aber auch eine zunehmende ,,EWG-Identität" der aus sechs Staaten stammenden Kommissionsbediensteten zur Folge hatte. Mit der Herausbildung einer eigenen Kommissionsinfrastruktur und vergleichbaren Herausforderungen wie etwa Auseinandersetzungen um Arbeitszeiten und rechtlichen Status, aber auch der Bewerkstelligung von Alltagsproblemen wie dem Wohnen in Brüssel, schälte sich ein ,,Kommissionsbewusstsein" der Bediensteten heraus. Wissenschaftler wie Zeitzeugen stimmen weitgehend darin überein, dass sich eine neue administrative und institutionelle Kultur in Brüssel herausbildete, die durch ihre flexible und engagierte Arbeit an der Verwirklichung der Ziele der Römischen Verträge, insbesondere der Zollunion, gekennzeichnet war. Nicht verhehlt wird aber auch, dass sich administrative Probleme einschlichen, die auf die spezifische Eigenart der neuen supranationalen Institution und fehlende Kontrollinstrumente zurückzuführen waren. Schließlich werden auch, deutlicher als bisher bekannt, die Schwierigkeiten beschrieben, die aus dem Fusionsvertrag resultierten, als aus den damals drei ,,Kommissionen" in Brüssel und Luxemburg eine administrative Einheit geschaffen wurde.

Die im zweiten Teil der Studie behandelten einzelnen Politikfelder lassen ähnliche Tendenzen erkennen. Auch hier wird das Bemühen der Kommissionsbediensteten akzentuiert, die zur Verfügung stehenden primärrechtlichen Vorgaben mit Inhalt zu füllen. Zuweilen vorsichtig suchend und tastend, gelegentlich aber auch voller Tatendrang nahmen die Generaldirektionen ihre Arbeit auf, die _ wie die Bereiche der Agrar- und Sozialpolitik zeigen _ zu einer sehr unterschiedlichen Regelungsdichte führte. Nicht selten sah sich die Kommission dabei zu deutlichen Kurswechseln veranlasst.

Besondere Beachtung widmet der Band einzelnen Kommissaren, aber auch dem ersten Generalsekretär der EWG-Kommission, Émile Noël, dem angesichts seiner langen Amtszeit und seiner Vertrauensstellung unter _ bisweilen aber auch neben _ unterschiedlichen Kommissionspräsidenten zentrale Bedeutung für die Formierung der Institution zugesprochen wird. Gerade aber an der Person von Noël zeigen sich auch die Grenzen der Zeitzeugeninterviews. In dem Beitrag über ihn werden zahlreiche Aussagen von Weggefährten sorgfältig dokumentiert, darunter zahlreiche Anekdoten. Die einzelnen Statements werden aber nur begrenzt eingeordnet, aufgearbeitet und systematisiert. So wird Noël als arbeitsamer Asket beschrieben, als Beleg hierzu ein Interview mit Gérard Olivier angeführt, dann aber die Information nachgeschoben, dass Olivier nicht zu der engeren Umgebung Noëls gehöre, um zwei Spalten Gegenteiliges zu lesen. Ingesamt unterscheidet sich das Verständnis der beteiligten Historiker über den Umgang mit den Interviews erheblich: Während die einen eher klassische wissenschaftliche Beiträge verfasst haben, in denen die Zeitzeugen-Interviews lediglich als Belege oder Korrektive eingestreut werden, stellen andere Beiträge gewissermaßen eine Aneinanderreihung von Interviewaussagen dar. Diese Spannweite gereicht dem Band allerdings nicht unbedingt zum Nachteil. Ihren Wert bezieht die Publikation vor allem aus den zahlreichen Details und aus der kompakten Darstellung, die ihr - auch angesichts der hilfreichen Tabellen zu einzelnen Kommissionen und Organisationsstrukturen - gewissermaßen Handbuchcharakter verleiht. Trotz der bisweilen nicht immer ganz glücklichen Übersetzung aus dem Französischen stellt der Band somit einen wichtigen Bestandteil der Integrationsforschung dar.

Auf die eingangs aufgeworfene Frage nach der Eurokratie wird in der Publikation nicht explizit eingegangen. Es schimmert aber durch zahlreiche Beiträge die Ansicht durch, dass sich in der Tat eine gewisse Brüsseler ,,Beamtenherrschaft" herausgebildet hat; zugleich wird aber auch deutlich, dass diese gar nicht so technokratisch und starr agierte, wie es Altiero Spinelli moniert hatte. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund mag Spinelli zum Ende der 1960er-Jahre seine Kritik an der Kommission abgeschwächt haben und 1970 als Industriekommissar selbst in die von ihm lange Zeit bekämpfte Kommission eingetreten sein.

Jürgen Mittag, Bochum

Fußnoten:


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