ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Malcolm Chase, Chartism. A New History, Manchester University Press, Manchester etc., 2007, 421 S., geb., ₤ 60/kart., ₤ 18,99.

Der Chartismus war nicht nur eine selbstorganisierte Massenbewegung der britischen Arbeiterschaft in den späten 1830er- sowie den 1840er-Jahren, die sich für die Demokratisierung des politischen Systems Großbritanniens als Voraussetzung für eine grundlegende Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der unmittelbar von der Industrialisierung Betroffenen einsetzte. Darüber hinaus gehört er zweifelsohne zu den am umfassendsten erforschten Themen der britischen Sozialgeschichte. Um so eindringlicher stellt sich daher bei jeder Neuerscheinung einer Geschichte dieser Bewegung, wie auch im vorliegenden Fall, die Frage, welche Vorzüge sie gegenüber den bereits vorliegenden Werken besitzt und ob sie tatsächlich etwas Neues zu bieten hat.

In Anbetracht des Forschungsstands zum Chartismus wäre es unbillig, von einer Neuerscheinung die Auswertung bislang unentdeckter Quellenbestände zu erwarten. Angemessener ist es, eine Synthese der bisherigen Erkenntnisse zu verlangen. Genau diese liefert das vorliegende Werk, das die umfassende Vertrautheit des Autors mit der Historiografie zum Chartismus auf jeder Seite belegt.

Es handelt sich bei dem vorliegenden Buch um ein Beispiel narrativer, der Chronologie folgender Geschichtsschreibung, in die geschickt eine Vielzahl analytischer Aussagen eingewoben ist. Dieses Vorgehen macht das Buch für unterschiedliche Gruppen von Lesern und Leserinnen zu einer lohnenden Lektüre. Wer sich erst einmal über den Chartismus informieren will, findet ein gut lesbares, höchst informatives Werk. Doch auch für Spezialisten und Spezialistinnen ist es mit Gewinn zu lesen, denn sie werden in den analytischen Aussagen die Position des Autors zu einer Fülle in der chartistischen Historiografie kontrovers diskutierter Fragen finden. Diese beziehen sich etwa auf die Bewertung des überragenden Einflusses von Feargus O'Connor, über zehn Jahre die Galionsfigur des Chartismus, auf die Bedeutung des chartistischen Landplans, der die Ansiedlung einer möglichst großen Zahl von Arbeiterfamilien auf eigenen kleinen Siedlerstellen auf dem Lande vorsah, oder auf die Haltung der Bewegung zur Anwendung von Gewalt. Zustatten kommt dem Verfasser bei der Formulierung seines analytischen Standpunkts seine große, in zwei einschlägigen Buchveröffentlichungen dokumentierte Vertrautheit mit der englischen agrarsozialistischen Tradition sowie mit der frühen britischen Gewerkschaftsbewegung, die ihn die Bündnisse zwischen dieser und dem Chartismus als Voraussetzung für dessen punktuelle Stärke herausstellen lässt. Bestechend ist weiterhin der sorgfältige Umgang des Verfassers mit den Quellen. Seine häufig explizit geäußerte Quellenkritik tadelt implizit zugleich in der chartistischen Historiografie zu findende Interpretationen, die auf einem naiven Quellenverständnis beruhen.

Das Buch überrascht mit einer neuartigen Struktur: Auf jedes, einem bestimmten, zeitlich definierten Abschnitt der Bewegung gewidmeten Kapitel folgt eines, das einen Protagonisten oder eine Protagonistin des Chartismus vorstellt, der oder die in dem im vorangegangenen Kapitel behandelten Abschnitt hervorgetreten ist. Auf diese Weise gelingt es dem Autor nicht nur, anhand von Einzelbeispielen die soziale Bandbreite zu veranschaulichen, die für die Anhängerschaft des Chartismus charakteristisch war, sondern auch die strukturelle Betrachtung mit jener der Subjekte zu verbinden. Ohnehin lässt der Autor keinen Zweifel daran, dass der Chartismus zwar eine Reaktion auf die Erfahrung der Auswirkungen der Industrialisierung war, dass die Art und Weise sowie die Stoßrichtung dieser Reaktion jedoch ganz entscheidend von den Menschen geprägt wurde, die sich in der Bewegung engagierten.

Neu ist ebenfalls das gelungene Bemühen des Autors, den Chartismus als eine alle nationalen Konstituenten des Vereinigten Königreichs im 19. Jahrhundert umfassende Bewegung darzustellen. So kommen die von ihm angeführten Beispiele aus England und Wales ebenso wie aus Schottland und Irland, ohne dass die jeweiligen national geprägten Besonderheiten des Chartismus in der Darstellung verloren gingen.

Bei aller Konzentration der Darstellung auf den politischen Charakter des Chartismus kommt bei Chase die kulturelle Dimension der Bewegung nicht zu kurz, sei es, dass er auf ihre Verwurzelung in den durch unterschiedliche sozioökonomische Strukturen geprägten Ortschaften verweist, sei es, dass er die Bewegungskultur in angemessener Breite entfaltet. Beispielhaft ist etwa seine Behandlung der chartistischen Lyrik, d.h. von Anhängern der Bewegung verfasster und in der Bewegungspresse veröffentlichter Gedichte, in der es ihm mittels einer Synthese literaturwissenschaftlicher und politisch-historischer Interpretation gelingt, den hohen Aussagewert dieser Art von Quelle zu verdeutlichen.

Auch macht die offenkundige Sympathie des Autors für den Chartismus, die auf seiner Empathie für das Anliegen der in der Bewegung engagierten Menschen gründet, ihn nicht blind für dessen kritikwürdige Seiten, etwa den chartistischen Antisemitismus, den er zwar mit Hinweis auf den Zeitgeist kontextualisiert, aber dennoch klar verurteilt.

Der überzeugende analytische Zugriff des Autors lässt gegen Ende des Buchs mit der Betrachtung des Auslaufens der chartistischen Bewegung nach. Zwar weist er richtig darauf hin, dass für viele Chartisten das Abflauen der Bewegung nicht gleichbedeutend war mit dem Ende ihres politischen Engagements und dass sich viele von ihnen mehr und mehr dem britischen Liberalismus annäherten. Doch die Gründe dafür werden nicht klar benannt. Das Verdienst und damit die Bedeutung des Chartismus sieht der Autor in dessen Einforderung eines politischen Systems, das mittels des allgemeinen Wahlrechts tatsächlich alle sozialen Gruppen der Gesellschaft repräsentiert und dadurch die Menschenwürde aller garantiert. Allerdings verbirgt sich in dieser Gesamteinschätzung der große blinde Fleck dieser neuen Geschichte des Chartismus. Sie bleibt weitgehend stumm, wenn es um das Geschlechterverhältnis in der Bewegung geht. Immerhin zielte die zentrale Forderung des Chartismus, ebenso euphemistisch wie unzutreffend ,,allgemeines Wahlrecht" genannt, auf das Wahlrecht für alle volljährigen Männer. In Anbetracht dieser Tatsache enthält das Resümee des Autors, an dieser Stelle völlig unbeabsichtigt, eine grundlegende Kritik an der Bewegung, weist es doch darauf hin, dass die Menschenwürde von Frauen durch die politische Repräsentation der mit ihnen verwandten Männer gewährleistet werden sollte. Zwar lassen sich in dem Buch Aussagen zu den Aktivitäten von Chartistinnen ebenso finden wie gelegentliche Kritik am Umgang chartistischer Männer mit Frauen. Doch summieren sich die Episoden und vereinzelten Aussagen nicht zu einer Analyse des Geschlechterverhältnisses im Chartismus. Das verwundert um so mehr, als der Verfasser das Geschlechterverhältnis, das er zwar zutreffend, doch ohne nähere Begründung, als eine Entwicklung von der Mobilisierung ganzer lokaler Öffentlichkeiten zum zunehmendem Ausschluss von Frauen fasst, als eine grundlegende Schwäche des Chartismus benennt, die zusammen mit dem immer ausgeprägteren Streben nach Respektabilität, die sich mit Massenmobilisierung zunehmend schlechter vertrug, für das Abflauen der Bewegung verantwortlich war.

Trotz dieser Kritik ist die Geschichte des Chartismus, die Malcolm Chase vorgelegt hat, in mehrfacher Hinsicht eine neue, deren Lektüre lohnt: in ihrem gelungenen Bemühen, dem Facettenreichtum der Bewegung gerecht zu werden, ebenso wie in ihrer Synthese des Forschungsstands und des reflektierten Standpunkts, den der Autor zu den vielen kontroversen Fragen in der chartistischen Historiografie einnimmt.

Jutta Schwarzkopf, Magdeburg


DEKORATION

©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE 8. Oktober 2008