ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Andreas Wirsching (Hrsg.), Neueste Zeit. Oldenbourg Geschichte Lehrbuch, Oldenbourg Wissenschaftsverlag, München 2006, 478 S., geb., 34,80 €.

Angesichts einer Fülle von Einführungen in das Studium der Geschichte stellte jede weitere Publikation in dieser Richtung ein Wagnis dar. Dies ist auch Herausgeber und Verlag der vorliegenden Einführung in die Neueste Geschichte bewusst. Originalität gewinnt das voluminöse Werk durch den Zugriff auf seinen Gegenstand: Nicht in Form einer rein chronologischen Epochenbeschreibung kommt es daher, sondern sozusagen multidimensional. Es widmet sich Forschungsfragen ebenso wie den Quellen der Neuesten Geschichte. Breiten Raum nehmen darüber hinaus strukturgeschichtliche Probleme ein, die sich mit der Herausbildung der Moderne im 19. und deren Durchsetzung im 20. Jahrhundert verbinden. Einzelne Kapitel - von verschiedenen Spezialisten verfasst - beleuchten Phänomene wie den ,,Durchbruch der bürgerlichen Gesellschaft", die Herausbildung des Nationsbegriffs oder beispielsweise das Mit-, Nach- und Nebeneinander von Industrialisierung und agrarischer Lebenswelt. Den besonderen Verhältnissen von Staat, Gesellschaft und Individuum widmet sich der zweite Teil, der zugleich die Entwicklung der Geschichtswissenschaft seit dem 19. Jahrhundert aufzeigt. Deren methodisches Vorgehen beispielsweise im Umgang mit unterschiedlichen Quellengattungen ist Thema des dritten Teils. Der vierte und letzte Teil bietet eine institutionelle Übersicht über einschlägige Bibliotheken, Archive sowie Forschungseinrichtungen.

Das Buch eignet sich für Studierende der Geschichtswissenschaft, um weg von der reinen Faktenorientierung auf die Ebene der Abstraktion zu gelangen, denn das Geschichtsstudium dient nicht der Anhäufung von Faktenwissen, sondern soll die Deutungskompetenz erhöhen. Dies mag in Zeiten des verschulten Bachelorstudiums schwieriger werden, unmöglich ist es nicht. Querverweise innerhalb der Texte lassen das Buch weniger linear erscheinen. Dieses Angebot kann das vernetzte Denken fördern, das eben auch ein Ziel des Studiums ist. Neben den synthetisierenden Überblicksdarstellungen finden sich Zitate aus Forschungswerken (,,Forschungsstimmen"), fokussierende Beschreibungen (,,Detailskizze") sowie Zeittafeln, Literaturhinweise und Abbildungen. Dieser an sich erfreuliche Mix unterschiedlicher Textarten und Medien wird aber nicht konsequent verfolgt. Wer der Historischen Bildforschung beispielsweise ein eigenes Kapitel widmet, darf dort auch getrost mehr als vier (!) Abbildungen platzieren. Das gilt auch für die Forschungsstimmen, die man sich zahlreicher gewünscht hätte. Die Auswahl der Detailskizzen wirkt mitunter recht willkürlich. Dies gilt ebenso für das Unterkapitel ,,Russland als Thema der Osteuropäischen Geschichte", das unvermittelt am Ende des dritten Teils zum ,,Vorgehen der Forschung" auftaucht.

Bleibt festzuhalten: Das Buch überzeugt als hervorragende thematische Einführung in die Epochenprobleme der Neuesten Geschichte. Den selbstgesteckten Anspruch, einem ,,,interaktiven' Modus" (S. 11) zu folgen und möglicherweise das Selbststudium zu befördern, wird es aber nicht gerecht. Denn aus hochschuldidaktischer Sicht handelt es sich um eine als konventionell zu bezeichnende Konzeption, die den Schwerpunkt auf erklärende Texte legt und keinen Arbeitsbuchcharakter hat.

Rainer Pöppinghege, Paderborn


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