Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Andreas Fickers, ,,Politique de la Grandeur versus Made in Germany". Politische Kulturgeschichte der Technik am Beispiel der PAL-SECAM Kontroverse (Pariser Historische Studien, Bd. 78), Oldenbourg Wissenschaftsverlag, München 2007, 436 S., geb., 49,80 €.
Die Europäische Integrationsforschung hat sich bislang in starkem Maße auf die Entstehung politischer Organisationen und die dahinter stehenden Interessen, auf die gesellschaftliche Verknüpfung zwischen den europäischen Staaten und die kulturhistorischen Hintergründe konzentriert. Dabei ist ein Aspekt bislang kaum beachtet worden, der aber für die europäische Integration von herausragender Bedeutung ist: die Entstehung - oder eben auch das Scheitern - europäischer Standards in technischer, wirtschaftlicher und politischer Hinsicht jenseits der großen Organisationen.
Dies ist der Punkt, an dem die auf eine Aachener Dissertation zurückgehende Studie von Andreas Fickers ansetzt. Es geht um die Bemühungen, einen einheitlichen europäischen Standard für die Übertragung und den Empfang von Farbfernseh-Bildern zu errichten. Diese Versuche scheiterten im Juli 1966, seither gibt es zwei verschiedene Systeme in Europa, neben dem französischen SECAM existiert das deutsche PAL. Während Frankreich und die osteuropäischen Länder SECAM bevorzugten, führten die Bundesrepublik Deutschland, Großbritannien, die Niederlande und Italien PAL ein. Zuvor hatten Deutschland und Frankreich versucht, das jeweilige System als europäischen Standard zu etablieren. Die Arbeit zeichnet diesen Konkurrenzkampf nach und analysiert das Scheitern der Verhandlungen.
Die Entstehung technischer Standards ist ein hochkomplexer Vorgang, in dem neben technischen Aspekten auch wirtschaftliche, politische und kulturelle Kategorien zu berücksichtigen sind. Fickers löst dieses Problem, in dem er - anknüpfend an Forschungen der französischen Technikhistoriker Yves Cohen und Dominique Pestre - zwischen einem ,,Terrain technique", einem ,,Terrain industriel" und einem ,,Terrain Politique" unterscheidet ohne aus dem Blick zu verlieren, dass alle drei ,,Terrains" miteinander verbunden sind. Damit ist auch die Gliederung der Arbeit vorgegeben: Zunächst wird die technische Ebene erläutert: Schon 1953 war in den USA das NTSC-Farbfernsehsystem eingeführt, erst 10 Jahre später wurde auch in Europa das französische SECAM und das deutsche PAL vorgestellt. Die in diesem Kapitel dargestellte technische Kontroverse zwischen der deutschen AEG-Telefunken und der französischen Compagnie Française de Télévision sind für technikhistorische Laien nur mühsam nachzuvollziehen. Wichtig ist jedoch das Ergebnis, zu dem Fickers kommt: Die Systeme waren in technischer Hinsicht gleichwertig, d.h. es kann nicht gesagt werden, dass das eine System besser sei als das andere.
Im nächsten Kapitel untersucht Fickers die ökonomische Dimension des deutsch-französischen Konkurrenzkampfes um einen einheitlichen europäischen Farbfernsehstandard. Hier geht es vor allem darum, dass die Durchsetzung des jeweils eigenen Standards mit erheblichen finanziellen Vorteilen verbunden gewesen wäre. Vor allem die zu erwartenden Lizenzeinnahmen aus anderen europäischen Ländern spornten den Wettbewerb zwischen beiden Unternehmensgruppen an.
Beide Unternehmen bemühten sich daher auch um die Unterstützung der jeweils nationalen Regierung. Gerade diese industriepolitische Auseinandersetzung bettet Fickers überzeugend in die unterschiedlichen Wirtschaftsstile in Frankreich und Deutschland ein. Die französische Regierung war von Beginn an bereit, SECAM politisch als ,,Champion National" zu unterstützen, während die Bundesregierung hier zunächst auf den Wettbewerb im Rahmen der Marktwirtschaft setzte. Die PAL-SECAM Kontroverse, so Fickers überzeugend, kann daher auch als Wettbewerb zwischen dem deutschen und dem französischen Wirtschaftsstil verstanden werden.
Unter diesen Voraussetzungen ist das Scheitern der Bemühungen um einen einheitlichen europäischen Farbfernsehstandard erklärbar: Während es unter den Technikern durchaus die Bereitschaft zur Standardisierung gab, hatten weder die beiden Unternehmen noch die beiden Regierungen ein Interesse daran. Auf Unternehmensseite bestand kein Interesse, weil sich beide Akteure mit einer Teilung der Märkte einverstanden erklärten, auch die Regierungen waren mit der ab 1966 vollzogenen Teilung des europäischen Marktes zufrieden.
Insgesamt hat Andreas Fickers eine in methodischer und empirischer Hinsicht durchweg überzeugende Arbeit vorgelegt, die vorbildlich für weitere Studien über die Prozesse von technischer Standardisierung in Europa werden dürfte. Etwas unverständlich ist jedoch der der Analyse angefügte Teil ,,Ergänzende Interpretationsangebote", der versucht, kulturgeschichtliche Methoden auf das Thema anzuwenden, die in der Darstellung zuvor kaum oder gar keine Berücksichtigung fanden. Die hier geschilderten Gedankengänge wirken unfertig und aufgesetzt, man hat den Eindruck, als wollte der Autor der gegenwärtig in der deutschen Geschichtswissenschaft boomenden Kulturgeschichte Tribut zollen. Doch kann dies den durchweg positiven Gesamteindruck der Studie nicht schmälern.
Guido Thiemeyer, Kassel/Siegen