ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Ernst Piper. Kurze Geschichte des Nationalsozialismus. Von 1919 bis heute, Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2007, 352 S., geb., 17,95 €.

Einen knappen und zugleich präzisen Überblick über die Geschichte des Nationalsozialismus zu geben, darf man getrost als herkulisches Unterfangen bezeichnen. Keine Arbeit, die sich dem Dritten Reich, seiner Vor- oder Nachgeschichte widmet, verzichtet auf den Hinweis, dass die verfügbare Literatur selbst für Experten nicht mehr zu übersehen sei. Dass Ernst Piper die salvatorische Klausel nicht beansprucht, sondern ohne Umschweife in medias res geht, ist daher ebenso bemerkens- wie ehrenwert. Auf eine Verortung seiner Gesamtdarstellung in den Forschungskontext verzichtet er ebenfalls, lediglich im abschließenden, die geschichtspolitische Entwicklung nach 1945 reflektierenden Kapitel finden sich einige kursorische Hinweise.

Diese deutliche Selbstbeschränkung findet ihren einfachen Grund darin, daß Piper keineswegs eine wissenschaftliche Arbeit vorgelegt hat, sondern sich erkennbar an ein breites, zeitgeschichtlich interessiertes Publikum richtet. So fehlen Bibliografie und Anmerkungsapparat, Belege und Quellenkritik; was bleibt, ist die bloße Erzählung. Für Fachleute und Studierende enthält der Band daher weder Neues noch Hilfestellung - wer das erwartet, wird enttäuscht. Piper bietet vielmehr auf rund 320 Seiten eine stark geraffte, in der Tat ,,kurze Geschichte des Nationalsozialismus" an. In eher konventioneller, weitgehend chronologischer Folge werden die wichtigsten Namen, Daten und Ereignisse von der Gründung der NSDAP-Vorläuferin Deutsche Arbeiterpartei 1919 bis zur Eröffnung des Holocaust-Mahnmals 2005 vorgestellt. Entstanden ist eine flüssig geschriebene, ohne Fachduktus auskommende Zusammenfassung, die auch komplizierte Sachverhalte gut verständlich aufbereitet.

Um pointierte Formulierungen ist Piper dabei nicht verlegen, etwa wenn er die Reichstagsbrandverordnung als ,,Verfassungsurkunde des Dritten Reiches" charakterisiert (S. 117) oder die Volksab- als ,,Volkszustimmungen" (S. 148) korrekt reetikettiert. Indes führt die unangestrengte Ausdrucksweise bisweilen auch zu sprachlichen Schnitzern, etwa wenn es über den medial ohnehin überstrapazierten Suizid im Führerbunker heißt, ,,[d]ie Geliebte wollte mit ihrem Adolf das Ende teilen." (S. 260). Und auch die sattsam bekannten Sprachklischees vom ,,Postkartenmaler" Hitler (S. 104), ,,Herrenreiter" Papen (S. 111) und ,,Reichstrunkenbold" Ley (S. 213) dürfen nicht fehlen. Da überrascht dann auch die Diktatorenversion von Vom-Tellerwäscher-zum-Millionär nicht mehr, als die Piper Hitlers Karriere zusammenfasst: ,,Adolf Hitler, so schien es, hatte es geschafft. Der Mann, der als Bierkelleragitator begonnen hatte, schickte sich an, sich zum Herrn über Europa zu erheben." (S. 176)

Der mitunter flapsige Ton mag ein Zugeständnis an die Zielgruppe sein, wenngleich fraglich scheint, ob die Leser die Unterforderung zu schätzen wissen. Schwerer wiegt indes eine Reihe kompositorischer und inhaltlicher Schwächen des Bandes. Angesichts des begrenzten Formats ist Unvollständigkeit zwar unumgänglich, doch überrascht die Schwerpunktsetzung. So wird der Kirchenpolitik des NS-Regimes verhältnismäßig viel Raum gewährt, während wirtschafts- und sozialgeschichtliche Fragen allenfalls am Rande verhandelt werden. Auch das gigantische Zwangsarbeitsprogramm erwähnt Piper lediglich kursorisch und verschenkt somit die Möglichkeit, beispielhaft die Diffusion der NS-Gewaltverbrechen in den zivilen Alltag herauszuarbeiten. Fragen der Geschlechtergeschichte finden leider kaum Beachtung, und da die ,Arisierungen` nicht angesprochen werden, fehlt im Schlusskapitel notwendigerweise auch die Restitutionsfrage. Derartige Abstriche sind kaum zu vermeiden, erscheinen aber vor allem deswegen ärgerlich, weil an anderer Stelle Kürzungspotenziale verschenkt wurden. So findet sich eine Flut von Namen und biografischen Details, die oft ebenso verzichtbar gewesen wären wie die Exkurse in den Spanischen Bürgerkrieg, zur Hinrichtung Mussolinis oder zu den Atombombenabwürfen 1945, die - da ein konsequenter Diktaturenvergleich fehlt - eher wie Fremdkörper wirken.

Hinzu kommen nicht wenige Unsicherheiten in der Forschungsrezeption und sachliche Irrtümer. Dies gilt für die Schilderung der NS-Rüstungspolitik, in der Piper vor allem das alte Zerrbild der Identität von Vierjahresplan und IG Farbenindustrie referiert, die Erkenntnisse etwa von Adam Toozes 2006 erschienenen ,,Wages of Destruction" aber kaum Eingang finden. (1) Und wenn von den Einsatzgruppen, die 1941 die erste Vernichtungswelle gegen die jüdische Bevölkerung der Sowjetunion unternahmen, als jenen ,,ganz normalen Männer[n]" die Rede ist, die ,,für den Alltag des Mordgeschäfts zuständig waren" (S. 224), dann unterschlägt die Pauschalisierung, dass Christopher Brownings Topos dezidiert die Angehörigen der unterstellten Polizeibataillone, nicht aber die leitenden SS- und Sipo-Offiziere meinte, die an der mörderischen Dynamik zentralen Anteil hatten. Hier zeigt sich, daß Piper, durch seine vielbeachtete Habilitationsschrift über Alfred Rosenberg als Kenner der NSDAP-Geschichte ausgewiesen, zwar die frühen Jahre der ,,Bewegung" und insbesondere das Münchener Gründungsmilieu souverän entwirft, an anderen Stellen aber gründlichere Recherchen dem Buch gut getan hätten. Weder war Martin Heidegger Professor oder gar Rektor in Heidelberg (S. 267) noch versammelte die sogenannte Ruhrlade ,,alle Großunternehmen des Ruhrgebiets mit ein oder zwei Mitgliedern" - dann wäre es schwerlich ein ,,hochexklusiver und streng geheim tagender Zirkel" gewesen (S. 98).

Ferner bleiben konzeptionelle Fragen ungeklärt: Ist eine Geschichte der Geschichtspolitik nach dem Krieg dasselbe wie eine Geschichte des Nationalsozialismus nach 1945, wie der Untertitel andeutet? Und was steckt hinter dem Ansatz, die NS-Diktatur als ,,formierte Gesellschaft" zu beschreiben, wenn der Begriffsgehalt schon seinem hier gar nicht erst genannten Schöpfer Ludwig Erhard nicht klar war und überdies in einem völlig anderen politischen Umfeld geprägt wurde? - Die gute Lesbarkeit des Buches allein kann diese Mängel nicht ausgleichen, zumal eine erkennbare Gesamtinterpretation, ein kohärentes Deutungsmuster fehlt. So wünscht man dem sinnvollen Vorhaben eine grundlegende Überarbeitung, um seinem eigentlichen Anliegen - einer breiten Leserschaft einen kompetenten Ein- und Überblick zu vermitteln - gerecht zu werden.

Kim Christian Priemel, Frankfurt (Oder)

Fußnoten:


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