ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Rossana Rossanda, Die Tochter des 20. Jahrhunderts, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 2007, 476 S., geb., 26,80 €.

Der Klappentext nennt sie einen Mythos und vergleicht sie mit Rosa Luxemburg - die Rede ist von der italienischen Politikerin und Publizistin Rossana Rossanda, deren 2005 erschienene Erinnerungen jetzt endlich auch, von Friederike Hausmann und Maja Pflug vorzüglich übersetzt, in deutscher Sprache vorliegen.

Rossana Rossanda wurde 1924 in Pula, damals Italien, heute Kroatien, geboren. Anfangs eher unpolitisch, schloss sie sich während ihres Studiums der Kunstgeschichte, Literatur und Philosophie der resistenza und der Kommunistischen Partei Italiens (KPI) an und machte nach der Befreiung Italiens eine rasche Karriere innerhalb der Partei, zunächst in der Mailänder Regionalorganisation, dann auch in Rom. 1959 wurde sie Mitglied des Zentralkomitees der KPI, 1963 Leiterin der Kulturabteilung der Partei. Von 1963 bis 1968 war sie Abgeordnete des italienischen Parlaments. 1969 wurde sie zusammen mit einigen Mitstreitern wegen ihrer Kritik am Kurs der Partei, insbesondere an der zögerlichen Kritik an der Niederschlagung des ,,Prager Frühlings" aus der KPI ausgeschlossen. Formaler Anlaß war die Gründung der Zeitschrift Il Manifesto, die bis heute als grob mit der taz vergleichbare Tageszeitung fortbesteht. In den 1970er-Jahren avancierte Rossanda auch international zu einer Leitfigur der Neuen Linken. Eine Reihe ihrer Arbeiten wurden ins Deutsche übersetzt.

Rossandas Erinnerungen sind ,,kein Geschichtsbuch" (S. 7) im strengen Sinne, sondern die Rekonstruktion und Reflexion eines Denk- und Bildungsprozesses. Die Autorin hat bewußt darauf verzichtet, historische Dokumente zu sichten, und lässt den Leser teilhaben an ihren Suchbewegungen und Vergegenwärtigungsversuchen. Sie hält sich auch nicht strikt an die Chronologie der Ereignisse, sondern springt immer wieder zwischen den Jahrzehnten. Das Buch beginnt mit der Kindheit der Autorin und endet mir ihrem Ausschluss aus der KPI. Dass die Zeit danach nicht näher thematisiert wird, ist auf den ersten Blick überraschend und gewiss bedauerlich, am Ende jedoch nur konsequent. Aber dazu später (mehr).

Die Leitfrage des Buches lautet ,,Was bedeutete es, in Italien ab 1943 Kommunist zu sein?" (S. 7). Rossanda schildert ihre Politisierung durch den plötzlichen Zusammenbruch des Mussolini-Regimes und die dadurch entstehende politische Polarisierung; ihre Entscheidung für den Kommunismus unter dem Eindruck der Bücher von Harold Laski und Karl Marx; die Hoffnungen vor und die Enttäuschung nach den Parlamentswahlen von 1948, die nicht den erwarteten Sieg der Linksparteien, sondern eine absolute Mehrheit für die Christdemokraten brachten und eine Zeit der Restauration einleiteten; die internen Auseinandersetzungen in der KPI nach der ungarischen Revolution von 1956; die allmähliche Modernisierung der italienischen Gesellschaft und die Schwierigkeiten der KPI, auf diese zu reagieren; die parteiinternen Auseinandersetzungen zwischen der Parteileitung in Rom, die ,,stets vom Mezzogiorno her dachte und Italien sozusagen von unten nach oben betrachtete" (S. 296), und den Repräsentanten des urbanen, modernen Norditaliens; das zunehmende Selbstbewusstsein der KPI, eine internationale, in Ost wie West respektierte Macht zu sein; den planmäßigen Aufbau Enrico Berlinguers zum zukünftigen Parteisekretär nach dem Tode von Palmiro Togliatti, der die KPI von 1944 bis 1964 geführt hatte. Dabei gelingt es Rossanda meisterhaft, die damaligen Stimmungen und Einschätzungen zu vergegenwärtigen.

Der deutsche Leser lernt bei Rossanda so zunächst einmal viel über die italienische Nachkriegsgeschichte im Allgemeinen und die Geschichte der KPI im Besonderen. Darüber hinaus - und vor allem - aber sind Rossandas Erinnerungen ein aufschlussreiches Dokument der schwierigen Ablösung von der Sowjetunion in Teilen der westeuropäischen Linken und eine interessante Fallstudie über die spannungsreichen Beziehungen zwischen linken Intellektuellen und Parteien im 20. Jahrhundert.

Rossanda zeigt nachdrücklich, wie die Sowjetunion für die KPI letztlich bis zu beider Ende ,,ein wenig vorzeigbarer, aber mächtiger Verwandter, mit dem man keinen offenen Streit riskieren wollte" (S. 224), geblieben ist, und dies, obwohl die Parteiführung spätestens nach der Niederschlagung der ungarischen Revolution 1956 um die wahlpolitischen Kosten einer auch noch so qualifizierten Loyalität gegenüber der Sowjetunion wusste und vor jeder Wahl Angst vor schlechten Nachrichten aus dem Osten hatte. Ein zentraler Grund für das Vermeiden eines klaren Bruchs vonseiten der reformorientierten Kräfte war die Angst vor der Spaltung der Partei. Hinzu kamen verschiedene, von Rossanda am eigenen Beispiel, beschriebene Verdrängungsmechanismen - der Zweifel an Informationen ,,von der anderen Seite", die Hoffnung auf Veränderungen im Osten und, paradoxerweise, vor allem auch die schon durch Gramsci begründete Tradition der Unabhängigkeit der KPI. Letztere gab der Partei ein gutes Gewissen und ließ weitere Klärungen des Verhältnisses zur Sowjetunion als nicht mehr nötig, zumindest jedenfalls als wenig vordringlich erscheinen.

Schaut man auf das Verhältnis Rossandas zur KPI, fällt vor allem auf, wie wichtig der Intellektuellen Rossanda die KPI als Massenorganisation gewesen ist, und zwar nicht einfach nur als Instrument und politischer Apparat. Ohne die auch in der KPI vorhandenen Elemente des ,,demokratischen Zentralismus" zu verdrängen, beschreibt Rossanda die KPI eindrücklich als ,,ein Netz von Beziehungen" (S. 260), das ganz unterschiedliche Menschen und Welten - Studenten und Arbeiter, Stadt- und Landbevölkerung, Nord- und Süditaliener - miteinander in Berührung brachte und verband und dabei wichtige Bildungs- und Integrationsfunktionen übernahm. Es scheinen maßgeblich diese Erfahrung und dieses Modell der ,,Vergemeinschaftung" gewesen zu sein, die Rossanda in die KPI geführt, so lange in der Partei gehalten und vor allem auch in dem Glauben an die Machbarkeit einer anderen Gesellschaft gestärkt haben.

Vor dem Hintergrund dieser beiden Leitmotive der Erinnerungen - der Desillusionierung über die Sowjetunion und der tiefen Überzeugung, dass man ,,um ein Land zu bewegen, [...] eine große Partei [braucht]" (S. 462) - ist dann auch klar, warum Rossandas Buch mit dem Ausschluss aus der KPI abbricht. Für Rossanda markiert 1968 und nicht erst 1989 die entscheidende historische Zäsur. Mit der blutigen Unterdrückung des tschechoslowakischen Reformkommunismus verflogen auch die allerletzten Illusionen über den real existierenden Sozialismus, und mit dem Versagen der KPI, die Impulse der Studentenbewegung und der einsetzenden Arbeitskämpfe aufzunehmen, wurden die sich eröffnenden Veränderungsmöglichkeiten nicht genutzt. ,,Danach gab es keine Wende mehr, nur noch Liquidierungen" (S. 354).

Frank Bönker, Frankfurt (Oder)/ Leipzig


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