ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Adina Lieske, Arbeiterkultur und bürgerliche Kultur in Pilsen und Leipzig (Politik- und Gesellschaftsgeschichte, Bd. 74), Verlag J. H. W. Dietz Nachf., Bonn 2007, 470 S., geb., 38,00 €.

Arbeiterkultur und Arbeiterbildung sind Themen, die in jüngster Zeit nicht gerade Hochkonjunktur haben. Der Zenit dieser Forschungen scheint in den Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts zusammen mit der Arbeitergeschichtsforschung insgesamt überschritten worden zu sein. Gerade in dieser Dekade wurden zahlreiche Publikationen zu diesem Themenkomplex vorgelegt, die mehr oder weniger explizit auch die Zusammenhänge mit bürgerlichen Bildungs- und Kulturwerten einbezogen hatten. Transnationale Vergleichsstudien sind in diesem Forschungsfeld jedoch ausgesprochen rar und von deutscher Sicht aus allenfalls im westeuropäischen Bereich (Großbritannien, Frankreich) angesiedelt. Adina Lieske beschreitet insofern absolutes Neuland. Mit ihrer Vergleichsstudie zur Arbeiterkultur und bürgerlichen Kultur im sächsischen Handels- und Wirtschaftszentrum von nationalem Rang und dem tschechisch-deutschen Regionalzentrum der Habsburger Monarchie liefert sie erweiternde und differenzierende Erkenntnisse vor allem zum Thema Arbeiterkultur, mit all seinen vielschichtigen Beziehungen zur bürgerlichen Kultur. Trotz des Titels steht die Arbeiterkultur nämlich im Vordergrund.

Lieske stellt ihre Arbeit auf ein breites Fundament deutsch- und tschechischsprachiger Quellen und einer umfassenden Forschungsliteratur. Ihr methodischer Zugriff und ihre thematische Auswahl bewegen sich eher auf ,konservativen' Pfaden. Schon ihre definitorischen Annäherungen zum Begriff ,,Kultur" zeigen, dass sie sich nicht auf das Experimentierfeld im Dunstkreis der ,neuen' Kulturhistoriografie einlassen will. Als Grundlage ihrer Untersuchung dient die ,,dominante Definition von Kultur und Bildung des 19. Jahrhunderts", die ,,bildungsbürgerlichen Vorstellungen" von ,,Bildung" und ,,Kultur" (S. 16f.). Lieske entscheidet sich für einen methodischen Zugriff, der nicht auf Alltagskultur ausgerichtet ist, auch nicht auf kulturanthropologisch orientierte Sichten auf Habitus, Verhaltensweisen, Symbole oder Rituale, sondern, Vernon Lidtke folgend, auf die ,,kulturelle Praxis" als bewusster Aktivität im städtischen Sozialmilieu und davon abgeleitet auf ,,Orte kultureller Praxis". Dies ist auch räumlich gemeint, aber vorwiegend im übertragenen Sinne angewandt, das heißt Organisationen und Institutionen betreffend. Als Untersuchungszeitraum wählt sie die Zeit von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Jahr 1914. Dies ist vollkommen einsichtig, fanden doch in diesem Zeitraum Formierung und erste Etablierung der Arbeiterorganisationen einschließlich ihrer Kulturbestrebungen statt. Lieske informiert zunächst über die wirtschaftlichen und sozialen Grundstrukturen der beiden Städte sowie jeweils zur Entwicklung des Bürgertums und der Arbeiterschaft und deren Bewegungen in beiden Städten. Leipzig und Pilsen wiesen als entwickelte Industriestädte eine relativ gut qualifizierte Arbeiterschaft auf und strahlten mit ihren lokalen Arbeiterbewegungen wie auch als Bildungs- und Kulturzentren in die Region aus. In der nationalen bzw. ethnischen Struktur unterschied sich Pilsen deutlich von Leipzig. Während in der böhmischen Stadt ein tschechisch-nationaler Bewusstseinsprozess deutsche bürgerliche Einflüsse in den Hintergrund drängte, spielte derartiges im national homogenen Leipzig keinerlei Rolle. Welchen Einfluss diese unterschiedlichen nationalen Strukturen auf die kulturellen Prozesse ausübten, ist die spannende Kernfrage der Studie. Lieske behauptet einleitend, dass Leipzig und Pilsen von ihren Strukturmerkmalen her gute Voraussetzungen zum Vergleich bieten. Allerdings zeigt ein Blick auf die Größe der beiden Städte, dass es auch deutliche Grenzen der Vergleichbarkeit gibt. Pilsen weist 1910 eine Einwohnerzahl von über 80.000 auf, zum gleichen Zeitpunkt war Leipzig bereits auf 590.000 Einwohner angewachsen. Die begründete Annahme, dass in kleineren Städten die soziale Abgrenzung der jeweiligen Schichten und die entsprechende Ausbildung von Milieus allein anhand begrenzter räumlicher Gegebenheiten vergleichsweise weniger stark ausgeprägt ist als in Großstädten, dürfte zu einer grundsätzlich anderen Situation in Pilsen beigetragen haben. Die übrigen Unterschiede nennt Lieske: neben dem erwähnten nationalen Aspekt, die ländliche Herkunft und eine entsprechende Bindung der nach Pilsen zuwandernden Arbeiterschaft mit den Folgen einer weniger ausgeprägten urbanen Solidargemeinschaft.

In den nachfolgend untersuchten ,,Orten der kulturellen Praxis" nimmt die Bildung den zentralen Platz ein. Von den sechs thematischen Kapiteln beschäftigen sich allein vier mit diesem Komplex: Bildungsorganisationen, Bibliotheken, Museen und Ausstellungen sowie, unter dem Aspekt der kulturellen Bildung, Musik und Theater. Es folgen Kapitel zu ,,Denkmälern" und zu ,,Gebäuden des städtischen Kultur- und Gesellschaftslebens". Während Bildungsvereine, Bibliotheken, Musik und Theater sowie ,,Volkshäuser" in der Forschung zur (Arbeiter-) Kulturgeschichte keine wirklichen Desiderate mehr darstellen, wendet sich Lieske mit den Themen ,,Denkmäler" und Ausstellungen/Museen neuen Forschungsfeldern zu. Beide Bereiche zeigen zugleich, dass sie in ihrer Bedeutung gegenüber den übrigen Kapiteln deutlich abfallen. Der musealen Bildungsarbeit sollte, so Lieske, ,,keine zu hohe Bedeutung zugemessen werden" (S. 292). Angesichts dieser Einschränkungen stellt sich die Frage nach der Auswahl der Untersuchungsgegenstände.

Adina Lieske reflektiert über die Wirkungen jener von ihr vergleichend analysierten ,,Orte der kultureller Praxis" in der Öffentlichkeit, im öffentlichen Raum als ,,kulturelle Repräsentation". Der öffentliche Raum sei in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend ,,zum Aktionsforum der Arbeiterbewegung" avanciert. ,,Öffentlichkeit" sei als ,,zentraler Bezugspunkt kultureller Praktiken" zu verstehen. (S. 18). Sicherlich ist auch das Aufstellen einer Lassalle-Büste als eine Repräsentation im öffentlichen Raum zu verstehen, dies gilt erst recht für die Errichtung der eindrucksvollen Repräsentationsbauten der Arbeiterbewegung, wie das Leipziger Volkshaus und das Pilsener Arbeitervereinshaus ,,Peklo". Wäre es unter dem Gesichtspunkt der Repräsentation im öffentlichen Raum jedoch nicht sinnvoller gewesen, das öffentliche Auftreten der Arbeiterschaft (und des Bürgertums) als solches auch zu untersuchen, sprich, sich nicht nur Aktivitäten im ,,geschlossenen Raum" (Bildungsveranstaltungen, Theateraufführungen) und steinernen Repräsentationen zuzuwenden, sondern Feste, Aufmärsche und ähnliches explizit in die Untersuchung einzubeziehen? Nun ist es meist ein Leichtes, eine Erweiterung um diesen und jenen Aspekt anzuregen, doch angesichts des formulierten Anspruches kulturelle Entwicklung in Beziehung zu Öffentlichkeit zu setzen, drängt sich dieser Vorschlag geradezu auf.

Diese kritischen Anmerkungen schmälern jedoch nicht den grundsätzlichen Erkenntniswert dieser Vergleichsstudie. Lieske arbeitet detailgesättigt und differenziert die Entwicklung in beiden Städten heraus. Dabei ergibt sich ein zentraler Unterschied: Im binational geprägten Pilsen überlagert der nationale Bewusstseinsprozess der Tschechen soziale Segmentierungen und wirkt stärker integrierend. Die Exklusivität bürgerlicher Kultur ist hier weniger ausgeprägt, und das Konzept von Arbeiterkultur als ,,Gegenkultur", das Lieske generell skeptisch einschätzt, erweist sich in diesem Fall als schlichtweg falsch. In Leipzig wirkte demgegenüber der Exklusionsaspekt deutlicher, und es kam ,,teilweise" zu einer sozialdemokratischen ,,Gegengesellschaft". Jenseits der Unterschiede sieht Lieske anhand beider Vergleichsbeispiele bestätigt, dass die emanzipatorische, soziale, politische sowie die ,,zivilgesellschaftliche Dimension" als Hauptbedeutung und Hauptfunktion der Arbeiterbewegungskultur anzusehen seien. Nicht bewusstes Streben nach ,,Gegenkultur", sondern soziale und politische Ausgrenzung seien der Entstehungsgrund für die Arbeiterkultur (S. 411ff.). Gerade im Bereich der Bildungsbestrebungen zeigt Lieske diese Zusammenhänge eindrucksvoll auf. Vor allem im Leipziger Fall waren die diversen Bildungsangebote zunächst auch als komplementäre Elementarbildung von entscheidender Bedeutung.

Dass trotz vorhandenem oder postuliertem Internationalismus nicht von einer ,,einheitlichen Arbeiterbewegungskultur", sondern nur von Arbeiterbewegungskulturen gesprochen werden kann, ist nachgerade selbstverständlich. Zu überlegen wäre, wie ein Vergleich im weiteren Verlauf der Geschichte ab 1914 bzw. nach 1918 ausfallen würde. Kann im Leipziger Fall von einer stärkeren Integration von Arbeiterbewegung und Arbeiterkultur ausgegangen werden? Und wie hat sich die tschechische nationale Selbstständigkeit auf das Verhältnis zwischen Pilsener Arbeitern und Bürgern respektive ihren kulturellen Aktivitäten ausgewirkt? Adina Lieskes Studie bietet fundierte und sehr anregende Voraussetzungen für entsprechende weitere Studien.

Detlev Brunner, Berlin/Rostock


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