ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Heimo Halbrainer/Claudia Kuretsidis-Haider (Hrsg.), Kriegsverbrechen, NS-Gewaltverbrechen und die europäische Strafjustiz von Nürnberg bis Den Haag (Veröffentlichungen der Forschungsstelle Nachkriegsjustiz, Bd. 1), Clio (Verein für Geschichts- und Bildungsarbeit), Graz 2007, 315 S., brosch., 25,00 €.

Auch in Österreich beschäftigt sich die Forschung in den letzten Jahren intensiv mit der Frage der Abrechnung, den strafrechtlichen Grundlagen und der Durchführung der Prozesse nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa. ,,Genocide on Trial", so der Titel der internationalen Konferenz an der Universität in Graz vom März 2006, aus der der vorliegende Band hervorgegangen ist, ist spätestens seit dem Jugoslawien-Konflikt und der Ahndung dort begangener Verbrechen in den Neunzigerjahren ins öffentliche Interesse gerückt. Im Rückblick wird deutlich, dass sich seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges eine neue strafrechtliche Auffassung zu Völkermord und Kriegsverbrechen herausgebildet hat, die ihre Anfänge 1945 in Nürnberg nahm und in der Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag 2002 gipfelte. Dabei spielt nicht nur die juristische Kodifizierung der Rechtsgrundlagen eine Rolle, sondern auch die gesellschaftlich relevante moralische Dimension einer allgemeinen Ächtung von ,,Verbrechen gegen die Menschlichkeit" oder ,,Crimes against Humanity", wie sie in Nürnberg zum ersten Mal definiert worden sind.

Der Band ist herausgegeben von Heimo Halbrainer, Zeithistoriker am Institut für österreichische und europäische Rechtsgeschichte der Universität Graz, und der Historikerin Claudia Kuretsidis-Haider von der Zentralen Österreichischen Forschungsstelle Nachkriegsjustiz am Dokumentationsarchiv Österreichischer Widerstand (DÖW) in Wien. In der Doppelspitze der Herausgeberschaft deutet sich die grundlegende Divergenz des Erkenntnisinteresses an, der jedem, der sich im Bereich von Abrechnung nach Konflikten bewegt, geläufig ist: Zum einen geht es um die Anwendbarkeit von strafrechtlichen Prinzipien auf bestimmte Verbrechenskomplexe, also um die Modellhaftigkeit von ,,Nürnberg", zum anderen geht es um die Frage, in welchem Ausmaß man die Strafverfolgung in Europa nach 1945 überhaupt als erfolgreich bezeichnen kann, also um eine Bilanz von ,,Nürnberg". Uneinig ist man sich in der Forschung, sei es nun von juristischer oder geisteswissenschaftlicher Warte, vor allem in der Bewertung der Gründe für schleppende Strafverfolgungen, Neuorientierung nationaler Kriegsverbrecherpolitik und gesellschaftliche Unwilligkeit, die Ahndung mitzutragen. Der Band spiegelt in seiner manchmal etwas verwirrenden Vielschichtigkeit diese verschiedenen Ansätze wider.

Gegliedert ist der Tagungsband in drei Komplexe. Der erste Teil beschäftigt sich mit der ,,Aktualität der Ahndung von Genozidverbrechen in ihrer historischen Entwicklung", der zweite Teil mit Einzelstudien zur Abrechnung vor nationalen Gerichten in verschiedenen Ländern Europas, und der dritte Teil mit Fallbeispielen zur Analyse der österreichischen Nachkriegsjustiz, wobei die österreichische Autorenmehrheit sich bereits in den anderen beiden Sektionen deutlich niederschlägt. Die Qualität und Länge der Beiträge variiert von fundierten Aufsätzen bis zu kurzen Tagungspapieren, eine Vereinheitlichung und möglicherweise auch eine gewisse Selektivität hätten dem Band daher an vielen Stellen gut getan.

Eingangs geht es um die großen Entwicklungslinien des Völkerstrafrechts. Wolfgang Form vom Dokumentationszentrum Kriegsverbrecherprozesse an der Universität Marburg zieht eine Linie vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg, und diskutiert am Beispiel vom Völkermord an den Armeniern bis zum Internationalen Hauptkriegsverbrecherprozess Nürnberg das Thema ,,Schutzgut Menschlichkeit" (humanity) bzw. die Frage, ob Menschenrechte durch Justiz absicherbar sein können. Otto Trifterer, Emeritus der Universität Salzburg, zieht den Bogen in die Zukunft der Justiz und beleuchtet die zunehmend durch Implementierung von Sondergerichtshöfen durchgesetzte Ahndung von Genozidverbrechen seit 1990. Dabei tritt Trifterer einem verbreiteten Irrtum entgegen und betont, dass internationale Gerichtshöfe die nationale Justiz prinzipiell nur unterstützen, nicht aber ersetzen sollen. Wichtig ist Trifterers Beitrag aber auch durch die Vorstellung der verschiedenen Definitionen von Kriegs- und NS-Verbrechen. Grundsätzlich und anders als der Titel suggeriert liegt der Schwerpunkt des Bandes nämlich auf den Ahndungsmöglichkeiten von NS-Gewaltverbrechen, dabei besonders Deportation, Zwangsarbeit, Beihilfe zum Genozid, und nicht von Kriegsverbrechen.

Es schließt sich ein größerer Österreich-Komplex an, in welchem von drei verschiedenen Disziplinen angehörigen Beiträgern (Winfried Garscha, Romana Schweiger, Karin Bruckmüller/Stefan Schumann) die Anwendbarkeit des 1945 verabschiedeten und zwölf Jahre gültigen Kriegsverbrechergesetzes auf andere Länder diskutiert wird, mit sich widersprechenden Ergebnissen und wohl eher als historische Würdigung denn als Normierungsvorschlag zu begreifen. Anke Sembacher diskutiert abschließend die Verpflichtungen, die sich aus dem Völkerstrafrecht sowie dem humanitären Völkerrecht ergeben, wiederum am Beispiel Österreichs, und erläutert insbesondere die Relevanz der Vorgaben von UNO und Genfer Konventionen. Hier wie auch in Winfried Garschas Beitrag hätte man sich einen ausführlicheren Aufsatz gewünscht.

Im zweiten Block, der sich der justiziellen Ahndung von NS-und Kollaborationsverbrechen ,,abseits der alliierten Prozesse" (Titel) in Europa widmet, gibt Claudia Kuretsidis-Haider einen einführenden Überblick über die unterschiedliche Praxis der europäischen Länder. Darstellungen zur Ahndungspraxis folgen am Beispiel der Denunziationsverbrechen in Österreich (Helmo Halbrainer), einer Kritik am Stand der Strafverfolgung in Deutschland (Stefan Klemp), einem Überblick zu den NS-Verfahren in Frankreich (Bernhard Brunner), den Niederlanden (Dick DeMildt), Belgien (Nico Wouters), Tschechien (Katerina Koceva), Polen (Witold Kulesza) und Slowenien (Dusan Necak). In einzelnen Beispielen (besonders Belgien, Niederlande und - als ,,negatives" Beispiel - Tschechien) wird dabei die lang vernachlässigte Frage nach der Beteiligung an der nationalen Deportation zum Judenmord angeschnitten, ein bereits seit langem gefordertes Desiderat der Kollaborations- und Täterforschung. In dieser Richtung wird man in Zukunft hoffentlich noch mehr lesen dürfen.

Die zehn Einzelstudien halten jedoch nicht immer, was man vielleicht als Überblick erwartet hätte, indem häufig die nationalen Besonderheiten und Phasen der Strafrechtspraxis gar nicht mehr beleuchtet, sondern gleich ins Detail eines Beispielprozesses gegangen wird, wie etwa im Polen-Beitrag zum Prozess gegen den Höheren SS- und Polizeiführer Danzig, Reinhardt Hildebrandt. Eine Vereinheitlichung der Fragestellung hätte hier vielleicht keine diesbezügliche Erwartungshaltung beim Leser geweckt. Überblicksartikel im enzyklopädischen Sinne bieten die Beiträge zu den Niederlanden, Frankreich, und besonders zu Belgien. Dagegen ist der Beitrag von Halbrainer zur Denunziation als Kriegsverbrechen zwar hochinteressant, aber als Länderstudie am falschen Ort, zumal er transnationale Parallelen zieht und die Denunziationsprozesse in den anderen Folgestaaten des ,,Großdeutschen Reiches" ebenfalls anreißt. Er hätte stringenterweise an Trifterer und Garscha angeschlossen werden müssen.

Ebenfalls solitär steht der höchst informative Beitrag von Christiaan F. Rüter (Emeritus an der Universität Amsterdam) zur von ihm herausgegebenen Reihe der Sammlung von Strafurteilen in europäischen NS-Prozessen. Rüter geht nämlich insbesondere auf die Frage ein, welchen Nutzen solche Datensammlungen - die Grundlage aller Forschungsarbeiten zum Thema - gerade auch für die Anwendbarkeit in zukünftigen Prozessen haben können. Urteils- und Verfahrenssammlungen sind nämlich erst in der Analyse des Forschenden aussagekräftig und können dem allgemeinen Eindruck der Statistik sogar widersprechen. Als sprechendes Beispiele führt Rüter die Untersuchung jüngst diskutierter Fälle an nach der Häufigkeit, mit der Polizeikräfte Erschießungen nicht durchgeführt haben. Zwar ändert der Befund nichts an der Tatsache, dass Polizeikräfte die Mordmaschine reibungslos und bis zuletzt am Laufen erhielten, aber es gibt uns Auskunft über den individuellen Spielraum bzw. abweichende Praxis in einzelnen Polizeidistrikten. Kurz: Es handelt sich um einen Beitrag, der einen exponierteren Platz, etwa am Schluss, verdient gehabt hätte, dagegen im Kontext der Länderstudien etwas untergeht.

Der dritte Komplex zur Bilanz der österreichischen Nachkriegsjustiz ist vom Gesamteindruck her der stärkste Teil des Bandes, hierin zeigt sich auch sein Wert für die Forschung. In Einzelaufsätzen werden die Verfolgungspraxis der Volksgerichte in Wien (Susanne Uslu-Pauer), Graz und Leoben (Heimo Halbrainer/ Martin F. Polaschek), Linz (Winfried Garscha, Claudia Kuretsidis-Haider) und Innsbruck (Martin Achrainer) erstmals zusammenfassend dargestellt. Hier ist die Anordnung durchweg gelungen, denn durch alle Volksgerichts-Analysen zieht sich als roter Faden die Frage nach Verfahrenskomplexen und Tatbeständen, was die Vergleichbarkeit der Ergebnisse, gerade auch in Hinblick auf die ,,verspätete Aufarbeitung" am Volksgericht Innsbruck, sehr erleichtert und für weitere Analysen und übergreifende Fragestellungen Raum gibt.

In einem zweiten Teil des Buches geht es um die Würdigung der Arbeit von Simon Wiesenthal (Sabine Loitfellner) und der zögerlichen Bewusstmachung des Verbrechenskomplexes der Deportationsverbrechen (Eva Holpfer), dargestellt abschließend am Beispiel des Justizskandals um den ,,Judenmörder von Wilna", Franz Murer (Gabriele Pöschl). Gerade bei den letzten drei Beiträgen hofft man unwillkürlich auf ausführlichere Studien, die auf die reine Faktenaufzählung und dem leicht anklagenden Tonfall, den diese zwangsläufig hinterlässt, hin zur Analyseebene folgen muss. Der Band endet etwas unvermittelt ohne Zusammenfassung, und damit mit dem letzten Satz des Murer-Aufsatzes, der österreichische Rechtsstaat habe sich hier ,,selbst ein Armutszeugnis ausgestellt". Gerade im Hinblick auf die differenzierte Betrachtungsweise der Tätigkeit österreichischer Volksgerichte und den Hinweisen auf rechtliche und praktische Schwierigkeiten in der Durchführung widerspricht diese vernichtende Kritik eigentlich dem Duktus des restlichen Bandes und hätte daher keinesfalls unkommentiert am Ende stehen dürfen.

Ganz deutlich wird im vorliegenden Band die Ambivalenz des Themas in Österreich: Den einen ging die Abrechnung nicht weit genug, die Prozesse gar ein Schandfleck für das neue Österreich, den anderen galten sie als Ausdruck einer Rachejustiz von Sondergerichten auf zweifelhafter rechtlicher Grundlage, die eine unermüdliche Behinderung der Strafverfolgung rechtfertigte. Hier ist der Forschung ein Tagungsergebnis in Form eines Readers, durchsetzt mit einigen Perlen, zur Verfügung gestellt worden, das Vertiefungen und weitere Forschungen anmahnt - ein Desiderat, das inzwischen in Bezug auf Österreich weitgehend eingelöst wurde. (1)

Kerstin von Lingen, Tübingen

Fußnoten:


DEKORATION

©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE 9. Juli 2008