Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Paula Diehl (Hrsg.), Körper im Nationalsozialismus. Bilder und Praxen, Wilhelm Fink Verlag, München 2006, 377 S., kart., 49,90 €.
Dass der nationalsozialistische Rassismus auf der Basis polarer Körperbilder operiert, ist bekannt: hier der starke, gesunde Deutsche, dort der körperlich ,,degenerierte" Jude, Bolschewist, Homosexuelle etc. Dabei ist das Konzept des ,,arischen" neuen Menschen in der Vergangenheit oft ex negativo beschrieben worden - mit Blick auf die Ausschlüsse und Unterdrückungen, die diesem Konzept innewohnten. (1) Der von Paula Diehl herausgegebene Sammelband mit dem Titel ,,Körper im Nationalsozialismus" kehrt diese Perspektive nun um: Er beschäftigt sich mit der Produktion und den Verfertigungsverfahren nationalsozialistischer Idealkörper, die er in unterschiedlichen kulturellen Feldern analysiert. Damit steht er im Kontext einer ganzen Reihe jüngerer Studien, die sich mit dem Körper und seiner Repräsentation im frühen 20. Jahrhundert - häufig mit dem Fluchtpunkt des Nationalsozialismus - beschäftigen. (2)
Der Untertitel des Bandes zeigt die Anordnung der Beiträge an: Sie sind entweder dem Kapitel ,,Körperbilder" oder dem Kapitel ,,Körperpraxen" zugeordnet. Die Unterscheidung solle keineswegs einer ,,scharfe[n] Trennung beider Bereiche" Vorschub leisten, erklärt die Herausgeberin einschränkend im Vorwort. Vielmehr seien Bilder und Praxen ,,in dem behandelten Kontext intrinsisch miteinander verbunden" (S. 8). Die Beiträge bestätigen diese Verwobenheit von Ikonizität und Performanz des Körperideals, werfen aber zugleich die Frage auf, ob ein Verzicht auf die Struktur bildende Leitdifferenz nicht klüger gewesen wäre. Denn abgesehen davon, dass in der Tat Bilder auf Praxen und Praxen auf Bilder angewiesen sind und demzufolge die meisten Beiträge sowohl den einen als auch den anderen Modus kultureller Sinnerzeugung in den Blick nehmen, schließt die Zweiteilung den wichtigen Bereich der Textualität aus. Nicht wenige Beiträge jedoch - unter anderem die von Jörn Ahrens (zur Tradition des NS-Körperideals im ,,Transhumanismus"), Gudrun Brockhaus (zum Körper in Elternratgebern des ,,Dritten Reichs") und Claudia Bruns/Susanne zur Nieden (zur Homosexualität unter dem Hakenkreuz) - leiten ihre Überlegungen zum Körper in der NS-Ideologie ausschließlich aus Texten und nicht aus Bildern ab. (3)
Von dieser strukturellen Unsauberkeit abgesehen, kann der Sammelband aber durchwegs überzeugen. Paula Diehls Einleitung führt dabei die leitenden Thesen des Bandes ein, die in den meisten Beiträgen aufgegriffen und differenziert werden. Die erste These lautet, dass in den NS-Körperentwürfen stets eine Überlagerung mehrerer Zuschreibungen erkennbar werde. Der Körper sei zu verstehen als ,,Verwirklichungsraum eines sozio-politischen Projektes, als ,rassenbiologisches` Substrat [...] und als mythisch-religiöses Transzendenzmotiv" (S. 10). Im Umkehrschluss bedeutet dies aber auch, dass das enge Beziehungsgeflecht von Politik, Wissenschaft und Religion im Nationalsozialismus durch Analysen der Körperbilder und Körperpraxen anschaulich gemacht werden kann. So kann der Band für sich in Anspruch nehmen, weit mehr als lediglich Einblicke in die Körperkultur des NS-Regimes zu gewähren.
Die zweite These lässt sich formulieren als wechselseitige Durchdringung von individuellem und Volkskörper. Diese These soll anhand dreier ausgewählter Artikel detaillierter erläutert werden. Michael Gamper untersucht im theoretisch differenziertesten Aufsatz des Bandes (,,Nacktes Leben - lebendige Nacktheit. Die Formung der Masse durch Körper- und Volkskörperpolitik", S. 149-170) die symbolischen Traditionen der NS-Körperpolitik am Fall der zeitgenössischen Nacktgymnastik. Er führt die spezifische Verknüpfung von Einzel- und Volkskörper auf Hobbes' Phantasma des ,,Leviathan" (1651) zurück, in dem der Bürger einen doppelten Leib erhält: den Leib seiner Privatperson und den Leib, durch den er den Staatskörper mitmodelliert (erkennbar im berühmten Titelfrontispiz des ,,Leviathan"). Der Nationalsozialismus greife, so Gamper, dieses imaginäre Konstrukt auf; zugleich verändere es aber seine Funktion: Der doppelte Körper des Bürgers werde ,,nun nicht mehr eingesetzt für die Darstellung und Propagierung von Souveränität und deren Supplementierung", sondern für die ,,Formierung leistungsfähiger Einzelkörper zu einem Volkskörper und dessen Unterordnung unter die Befehlskraft eines Führers" (157). Am Fall der Nacktgymnastik stellt Gamper diesen Formierungs- und Unterordnungsprozess dar: Die Körper werden hier zunächst einer symbolischen Reinigung unterworfen, dann durch disziplinierende Rituale (,,Training") der Idealform näher gebracht und schließlich via Gruppenübungen in ein Kollektiv integriert.
Der Beitrag Erika Fischer-Lichtes (,,Tod und Wiedergeburt - Zur Verklärung der Volksgemeinschaft in Thingspielen und nationalsozialistischen Feiern", S. 191-210) macht eine ähnliche Verbindung von individuellem und kollektivem Körper stark. Auch hier werden die Einzelkörper in einen Volkskörper überführt; dieser wird dann aber wiederum mit einem neuen Einzelkörper - dem messianischen Führerkörper - vereinigt. Fischer-Lichte zeigt diese Hervorbringung und Verklärung der ,,Volksgemeinschaft" am Beispiel zweier öffentlicher NS-Spektakel: des Thingspiels und des Reichstrauertags. Inszenierungen der geordneten Masse in passionsspielähnlichen (halb rituellen, halb theatralischen) Aufführungen sollen hier unter den Teilnehmenden ein religiöses Gemeinschafts- und Identifikationsgefühl mit dem beweinten ,,deutschen Volk" bewirken (das - so die Suggestion - in der Weimarer Republik gestorben und nach 1933 wieder auferstanden sei). Auf dem Höhepunkt der Feier wird diese Gemeinschaft dann mit ihrem ,,göttlichen" Führer, Hitler, identifiziert. Das totemistische Ritual, das dieser Einswerdung von Volks- und Führerkörper zugrunde liegt, findet Fischer-Lichte bereits in ethnologischen Arbeiten James George Frazers und Emile Durckheims erläutert.
Isabell Heinemanns Aufsatz über ,,Die Bedeutung der ,Rassenauslese' in der NS-Umsiedlungspolitik" (S. 267-280) ergänzt die Aufsätze von Gamper und Fischer-Lichte, indem er weniger die symbolischen Strategien akzentuiert, die den ,,Volkskörper" erzeugen, als vielmehr auf das biopolitische Projekt hinweist, dem diese symbolischen Strategien zuarbeiten. Dabei setzt sich Heinemann mit der Umsiedlungsutopie der Nationalsozialisten unter Anführung der SS auseinander, die als ,,Rassenelite" die Grundlage einer neuen ,,germanischen" Bevölkerung Osteuropas bilden sollte. Zur Überprüfung ihrer Elitentauglichkeit werden potenzielle SS-Mitglieder rassenanthropologischen Verfahren unterworfen, körperlichen ,,Auslese"-Prozeduren, mittels derer Abweichungen vom ,,arischen" Ideal genau kartiert wurden. Der ideale Volkskörper wird hier durch Umsiedlung und Zucht elitärer Einzelkörper erzeugt; der Einsatz der Anthropometrie wird später von SS-Anwärtern auch auf im besetzten Ausland lebende Deutsche und auf Polen übertragen, um die Basis des ,,germanischen" ,,Volks im Osten" zu erweitern.
Die drei skizzierten Beiträge repräsentieren so das thematische Spektrum der Aufsätze, das sich zwischen Symbol- und Biopolitik aufspannt und deren Verknüpfungen erhellt. Insgesamt bietet der Band einen facettenreichen und innovativen Überblick über den Entwurf des ,,arischen" Idealkörpers zwischen 1933 und 1945. Die Qualität der Beiträge ist hoch und homogen; am überzeugendsten sind sie, wo sie ihre historische Beobachtungen mit Struktur bildenden theoretischen Überlegungen verknüpfen - wie etwa Claudia Schmölders' Aufsatz über die physiognomische Fotografie (S. 51-78), Christina von Brauns Text über die politische Religion des Nationalsozialismus (S. 79-90) und Maren Möhrings Beitrag zur FKK-Praxis im ,,Dritten Reich" (S. 211-228). Dass gegen Ende des Bandes manche Aufsätze zu sehr zur Deskription neigen, ist dem positiven Gesamteindruck nur am Rande abträglich. Schließlich bildet die Anlage einer Gesamtbibliografie sowie eines Personen- und Sachregisters einen benutzerfreundlichen Service, der in vergleichbaren Sammelbänden keineswegs Standard ist.
Kai Marcel Sicks, Köln
Fußnoten: