ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Friedrich Stamp, Im Wandel solidarisch bleiben. Geschichte der Metallarbeiter und ihrer Gewerkschaften in Mecklenburg und Pommern, VSA Verlag, Hamburg 2007, 453 S., geb., 16,80 €.

Der Historiker Friedrich Stamp untersuchte im Auftrag der IG Metall den regionalen Wandel der Metallarbeiterschaft und ihrer Gewerkschaften in einer Langzeitstudie von den Anfängen bis in die Gegenwart. Eine Seniorengruppe der IG Metall unterstützte seine Archivrecherchen und trug Erinnerungen aus ihrem Arbeits- und Gewerkschaftsleben bei.

Die methodischen Schwierigkeiten einer solchen sozialhistorisch fundierten Langzeitstudie liegen auf der Hand. Zum einen gliedert sich das heutige Bundesland Mecklenburg-Vorpommern in zwei sehr unterschiedliche historische Territorien, die beiden mecklenburgischen Staaten (1934 vereinigt) und einen Teil der preußischen Provinz Pommern. Zum anderen wirkten sich die politischen Zäsuren im 20. Jahrhundert massiv auf die industrielle Entwicklung der Regionen aus; die staatlich induzierte Industrieansiedlung während des NS-Regimes und der SED-Herrschaft führte zu tiefgreifenden sozialen Veränderungen sowie nach den jeweiligen Systemumbrüchen zu sozio-ökonomischen Verwerfungen. Der Buchtitel unterstellt zwar eine Kontinuität im Verhalten der Arbeiterschaft, aber über die politischen Zäsuren des 20. Jahrhunderts hinweg sind sie auch in Mecklenburg und Pommern so kaum festzustellen. Stamp strukturiert das umfangreiche Material chronologisch in fünf unterschiedlich umfangreiche Kapitel. Während jeweils 100 Seiten für die Zeit bis 1918 und die DDR-Geschichte zur Verfügung stehen, wird die NS-Zeit auf 26 Seiten abgehandelt.

Zunächst stellt der Autor die Entstehung und den Aufstieg der Arbeiterbewegung dar. Hier gelingt die Verknüpfung von sozio-ökonomischer Strukturgeschichte, Wandel in der Lebensweise und Gewerkschaftsgeschichte am überzeugendsten. Ausgehend von der später als in anderen Territorien einsetzenden Industrialisierung und der lange Zeit repressiven Vereinsgesetzgebung charakterisiert er die handwerklichen und städtischen Wurzeln der Gewerkschaftsbewegung. Erst der industrielle Aufschwung nach 1870 verschaffte den Metallarbeitern ein stärkeres soziales und gewerkschaftliches Gewicht, wobei sich der Deutsche Metallarbeiter Verband (DMV) gegen andere Berufsverbände und Hirsch-Dunckersche Gewerkvereine behaupten musste. Der Autor beleuchtet an vielen Beispielen die nivellierende Wirkung der Fabrikarbeitsverhältnisse. Die gewerkschaftliche Organisationsbildung stellt er in der Wechselwirkung mit der Unternehmerseite dar. Von zentraler Bedeutung für die Darstellung sind immer wieder die Werftarbeiterverhältnisse.

In der Weimarer Republik dominiert neben den politischen Veränderungen die krisenhafte Wirtschaftsentwicklung die Regionen. Nicht nur der Übergang von der Kriegs- zur Friedenswirtschaft, sondern auch die Absatzkrise in den traditionellen Metallbranchen führten zu massiven Arbeitsplatzverlusten; so brach die Werftindustrie bis 1932 fast vollständig zusammen. Detailliert verfolgt Stamp das gewerkschaftliche Ringen um Arbeitsplätze, gegen Lohnabbau und Arbeitszeitverlängerung in den Tarifverhandlungen und Streikbewegungen. Der Richtungsstreit zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten erreichte auch den regionalen DMV, in einzelnen Betriebsräten hielten Kommunisten die Mehrheit, z.B. in der Rostocker Neptunwerft und den Gießereien um Torgelow.

Im dritten Kapitel beschreibt Stamp knapp die Zerschlagung der Gewerkschaften und die Errichtung der nationalsozialistischen Arbeits- und Sozialordnung. Doch gravierender für die regionale Entwicklung, und das macht der Autor an den verschiedenen Rüstungsprojekten in der Region sichtbar, war der Industrialisierungsschub seit 1933. Riesige Produktionsstätten der Rüstungsindustrie stampfte man aus dem Boden. Zum ersten Mal wurden Mecklenburg und Pommern Zuwanderungsgebiete für Facharbeitskräfte; Städtewachstum, Wohnungsbau für Arbeiterfamilien, moderne Arbeitsplätze sowie die NS-Sozialpolitik weichten traditionelle Arbeitermilieus auf. Über diese Prozesse geht die Untersuchung zu schnell hinweg und konzediert am Schluss Anpassung und Widerstand unter den Metallarbeitern. Dass zwischen Widerstand und Anpassung noch weitere Verhaltensformen nachweisbar sind, bleibt außerhalb des Fragehorizonts.

Im folgenden, umfangreichen Kapitel werden die Jahre zwischen 1945 und 1988/89 in den Blick genommen. Mit dem Wiederaufbau der kriegszerstörten und großflächig demontierten Betriebe entstanden Arbeiterinitiativen und gewerkschaftliche Interessenvertretungen, die relativ konfliktfrei in die neue Einheitsgewerkschaft (FDGB) integriert werden konnten. Stamp zeigt, wie der Aufbau einer umfangreichen volkseigenen Werftindustrie und ihrer Zulieferbetriebe den Facharbeitern aus der NS-Rüstungsindustrie eine neue Perspektive eröffnete. Genau beschreibt er den Wandel der betrieblichen Verhältnisse in der verstaatlichten Industrie und die neue Rolle und Funktion der Gewerkschaften in der Planwirtschaft. Das Verhältnis zwischen SED und FDGB und die Disziplinierungen im Arbeitsalltag bleiben dagegen unterbeleuchtet. Der 17. Juni 1953 sowie die Folgen der deutschen Teilung und die ökonomische Reformpolitik in den 1960er-Jahren werden in ihren regionalen Ausformungen analysiert. Wie in anderen Studien bereits belegt, unterliefen die Arbeiter die SED-Lohnpolitik erfolgreich. Auch Betriebskollektivverträge, sozialistischer Wettbewerb und Normenkontrolle konnten daran letztlich nichts ändern. Am Ende stand die wirtschaftliche Krise in den 1980er-Jahren.

Im Mittelpunkt des letzen Kapitels stehen die "Wende" und die massive Deindustrialisierung unter den marktwirtschaftlichen Verhältnissen im vereinten Deutschland. Der Streit um die personelle Erneuerung der Gewerkschaftsvertretungen und die Wiederbelebung einer echten Interessenvertretung geriet schnell in den Strudel des Existenzkampfes. Die mehrstufige Privatisierung der Werften und der Kampf um den Erhalt dieser Betriebe erschütterte das Bundesland, führte 1992 zur Regierungskrise und zu sozialen Verwerfungen bisher ungekannten Ausmaßes. Das Ringen der Gewerkschaften um den Erhalt der Werften und um die Tarifabschlüsse wird ausführlich dargestellt. Der wirtschaftliche und soziale Wandel stellte auch die IG Metall vor neue organisationspolitische Herausforderungen. Nicht nur der Mitgliederschwund um 65 Prozent zwischen 1992 und 2003 waren zu verkraften, Senioren und Arbeitslose machen heute einen Großteil der Mitgliedschaft aus.

Diese empirische Langzeitstudie beschreibt facettenreich, manchmal vor Fakten geradezu überquellend, eine wechselvolle Geschichte der Metallarbeiter und ihrer Gewerkschaften. Allerdings wären viele Daten übersichtlicher in Tabellen und Diagrammen aufgehoben gewesen. Zwar enthält das Buch keine gewerkschaftliche Erfolgsgeschichte, doch es schärft den genauen und nüchternen Blick auf die regionale Gewerkschaftsgeschichte im Spannungsfeld von Wirtschaft, Politik und sozialem Wandel - ein angemessener Umgang mit Traditionsbildung nach diesen Erfahrungen.

Andreas Wagner, Schwerin


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