Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Jay Winter, Dreams of Peace and Freedom. Utopian Moments in the 20th Century, Yale University Press, New Haven/London 2006, 261 S., geb., £ 16,99.
Der Brite Jay Winter, an der Yale University lehrend, frankophil und Weltbürger zugleich, gehört zu den führenden Kulturhistorikern der Gewalt. Er hat sich seit langem durch Bücher zum Ersten Weltkrieg einen Namen gemacht. Hier legt er in nuce eine Alternativgeschichte des 20. Jahrhunderts vor, eine Geschichte, welche nicht so sehr dem Wirklichkeitsablauf, sondern den (Möglichkeitsräumen) Platz gibt. Auf knappem Raum geht es ihm nicht um eine systematische Entfaltung gesellschaftlicher Utopien, vielmehr schreibt er einen geistreichen, literatur- und quellengestützten Essay mit wechselnden Stationen. Diese wiederum sind um verschiedene Jahre gebündelt, springen in deren Umfeld kreuz und quer durch das vergangene Jahrhundert und geben immer wieder überraschende, wenn auch vielfach zufällige Verknüpfungen an. Winter ist sich der Wirkmächtigkeit von Bildern bewusst und erweckt sie konkret oder im übertragenen Sinn durch seinen Erzählstil, der Leser und Leserinnen immer wieder an die Hand nimmt, besser: die Augen öffnet, und dabei gelegentlich geradezu in einen Plauderton verfällt. Schade, dass es dazu nur auf dem Titelcover ein konkretes Bild der Pariser Weltausstellung von 1900 gibt: eine Welt von inneren, statt äußeren Bildern, eine Welt der Humanität und des Friedens.
Damit fängt das Buch auch an: bei einem Gang über die Weltausstellung dieses Jahres wurden von den Ausstellungsmachern diese Träume entfaltet. Da ging es u.a. um Frieden durch Handel, aber der Imperialismus hatte noch ganz andere Züge kolonialer Herrschaft und Unterdrückung aufzuweisen. Hinzu kommen zwei weitere Visionen: Der Pariser Bankier Albert Kahn entwickelte und unterstützte die Idee ein Weltgedächtnis durch Fotografie zu schaffen und suchte diese durch Auftragsarbeiten herzustellen. Das sei ein zutiefst pazifistisch gemeintes Anliegen gewesen, das allerdings in den 1920er-Jahren unter ganz anderen Umständen nur partiell realisiert wurde. Die dritte Vision war die sozialistische, wie an einer Geschichte der zweiten Internationale und zumal an Jean Jaurès verdeutlicht wird (Nebenbei: auf dem Baseler Sozialistenkongress 1912 hörten die 6000 Zuhörer im Münster Beethovens Neunte - aber nicht mit einer ,,Hymn of Peace"(S. 45), sondern mit Schillers vertonter ,,Ode an die Freude" - nicht immer hat alles mit Frieden zu tun).
Es schließt sich 1919 an - und damit die Frage nach ewigem Krieg oder ewigem Frieden. Da ging es gerade um die regulative Idee des Selbstbestimmungsrechts nach Woodrow Wilson. Die Grenzen der Umsetzung wurden schon in der US Inquiry ab 1917 unter Colonel House deutlich. Aber in Paris auf der Friedenskonferenz konnten auch Schwarze wie William Du Bois und Asiaten wie V.K. Wellington Koo den Blick ,,von unten" einbringen. Letztlich kam so viel dabei auch für Jay Winter nicht heraus: Self-determiniation ,,shriveled form a ,minor utopia' to a minor diplomatic adjustment of the old order"(S. 50). Die ,,Illuminations" von 1937 führen uns wieder auf eine Weltausstellung nach Paris, aber neben der berühmten Konkurrenz des deutschen und sowjetischen Pavillons findet sich Picassos Guernica und Raul Dufys ,,Spirit of Electricity", ein monumentales Mural zur Elektrizität (Allerdings wurde die Elektrizität schon 1900 quasi vergöttert).
Danach folgt 1948 mit der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die durch die Biographie von René Cassin anschaulich gemacht werden und in ihrer Entstehung und schließlich Verabschiedung durch die UN-Vollversammlung auch durch die hinzu kommende Initiative Eleanor Roosevelts entfaltet wird.. Die ,,Befreiung" (liberation) von 1968 zielt zunächst auf die Befreiungstheologie und vor allem auf Gustavo Guttierez, sodann auf Dietrich Bonhoeffer und die deutsche NS-Vergangenheit. Winter berichtet dann von den Strassenprotesten in Berlin und Paris, weist hin auf den Sozialismus mit menschlichem Antlitz in Prag und zumal auf Vaclav Havel. Am Ende steht 1992: die Idee an eine globale Staatsbürgerschaft nach dem Ende der bisherigen Ost-West-Konfrontation. Hier werden einige Züge von ,Glokalisierung' anschaulich vorgeführt. Aber: ,,it is undoubtedly true that in the early twenty-first century, ,transnational advocacy networks' operate on the urban, national and international levels in many parts of the world."(S. 200). Dennoch gelte: So wie Karl Marx die Flexibilität des Kapitalismus unterschätzt habe, so würden auch die Befürworter von "global citizenship" die Leistungs- und Wandlungsfähigkeit des modernen Staates insgesamt unterschätzen (S. 202).
Worum geht es in dem schmalen Band letztlich? Jay Winters Alternativgeschichte möchte nicht etwas ganz anderes bieten. Er behauptet nicht, dass die Ansätze zu einer besseren Welt an sich schon lebens- und durchsetzungsfähig gewesen seien, wären nicht andere, ,,böse" Mächte - vom Kapitalismus über den Staat bis zu üblen Rassisten oder Kommunisten- dazwischen gekommen. Gerade für die großen Utopien hat Winter Verachtung übrig und warnt nachdrücklich vor ihnen, denn sie hätten mit ihrem sozialtechnischen Umsetzung den Massenmord von Millionen Menschen zu verantworten. Ihm geht es um die ,,'minor' utopias" für eine bessere Welt. Vermutlich kann man das mit dem von Ernst Bloch geprägten Begriff der konkreten Utopie übersetzen, der bei uns durch 1968 populär wurde. Damit öffnet der Autor den Blick für mächtige und auch einflussreiche Alternativem zum tatsächlichen Gang der Geschichte. Die Zukunft und die Zukunftserwartungen der jeweiligen Zeitgenossen werden geöffnet. Damit wird zugleich deutlich, dass die reale Entwicklung nicht unbedingt und schon gar nicht im 20. Jahrhundert die vernünftige war. Geschichte wird so in einer sehr lebendigen Weise als offener Prozess hergestellt.
Jay Winter bedient sich souverän eines kulturwissenschaftlichen methodischen Instrumentariums, aber er tut dies auf eine leichte, auf eine sehr leserfreundliche Weise. Gerade die Einbeziehung und Evozierung von Bildern - eben der Weltausstellungen, der sozialen Ereignisse um die Pariser Friedenskonferenz, um die Revolutionen von 1968 entfaltet lebendige Menschen als einzelne und als politische Massen. Damit verbindet er eine liebevolle Personen- und Ideengeschichte von vielen Protagonisten, die wohl nur zum Teil bekannt sind. Manche verdienten über Winter hinaus und vielleicht von seinen Anregungen ausgehend bessere und öffentliche Wiederentdeckung, handelt es sich doch nicht um Außenseiter, sondern um öffentlich bedeutsam werdende Menschen, die in der von ihnen und ihren sozialen Gruppen angestrebten Zielen in Richtung auf Humanität und Frieden nicht so weit kamen, wie sie (und vielleicht auch wir heute) es uns gewünscht hätten. Winter geht es um eine Ehrenrettung für ,,visionary temperament, not to celebrate its achievements, which are few and full of incompatible and incongruent elements. It is rather to see these visions as spaces in which the contradictions of a period are embodied and performed" (S. 205).
Mit Winters Blick kann man gerade von den Rändern her auch den Kern von Staat, Gesellschaft und Staatengesellschaft besser erkennen. Nicht zuletzt im weltweiten Blick liegt Winters Stärke. Das ist nicht das geringste Verdienst einer kulturell informierten Politikgeschichte, welche den Schwerpunkt auf Frieden legt, aber Krieg und Gewalt dabei nicht vergisst.
Jost Dülffer, Köln