ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Denis Sdvižkov, Das Zeitalter der Intelligenz. Zur vergleichenden Geschichte der Gebildeten in Europa bis zum Ersten Weltkrieg (Synthesen. Probleme europäischer Geschichte,  Bd. 3), Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2006, 260 S., kart., 29,90 €.

Der Buchmarkt produziert seit einigen Jahren immer neue Überblicks- und Handbuchreihen. Gleichzeitig hat sich die europäisch vergleichende Geschichtsbetrachtung fest in der deutschen Geschichtswissenschaft etabliert. Ein jüngeres Produkt dieser doppelten Entwicklung ist die Reihe ,,Synthesen. Probleme europäischer Geschichte" im Verlag Vandenhoek & Ruprecht, die von den Direktoren des ,,Berliner Kollegs für Vergleichende Geschichte Europas" herausgegeben wird. Deren dritter Band stammt nun aus der Feder des Moskauer Historikers Denis Sdvižkov und ist unter dem Titel ,,Das Zeitalter der Intelligenz" der ,,vergleichenden Geschichte der Gebildeten in Europa bis zum Ersten Weltkrieg" gewidmet.

Die gesamteuropäische Ausrichtung und der Überblickscharakter von Sdvižkovs Darstellung legen es nahe, sie mit dem zehn Jahre älteren Band von Christophe Charle über die ,,Intellektuellen im 19. Jahrhundert" zu vergleichen, der 1997 in der Pionierreihe zur Europäischen Geschichte im Fischer Taschenbuch Verlag erschienen ist. (1) Dieser Vergleich mit Charle verweist zudem auf die zentrale Begriffsproblematik des Themas: Während Charle den (französischen) Begriff der ,,Intellektuellen" für die Überschrift wählte, orientiert sich Sdvižkov mit dem Begriff der ,,Intelligenz" stärker am (russischen) Konzept der intelligencija. Er trifft seinen Gegenstand damit letztlich genauer als Charle. Denn der Begriff des Intellektuellen entstand erst am Ende des 19. Jahrhunderts im Frankreich der Dreyfus-Affäre und zielt weniger auf eine soziale Schicht als vielmehr auf einen Typus von sozialem Akteur. Der ältere Begriff der intelligencija changiert dagegen stärker zwischen Typen- und Schichtbezeichnung und eignet sich besser für eine Geschichte der Gebildeten. Gleichwohl wird auch bei Sdvižkov - der an einzelnen Stellen ebenfalls von Intellektuellen spricht - dieser Unterschied zwischen Schicht- und Akteursbezogenheit nicht immer klar formuliert.

Ähnlich wie Charle schreibt auch Sdvižkov in erster Linie eine Sozialgeschichte der gebildeten Stände. Anders als Charle geht er aber nicht chronologisch vor, sondern anhand von vier Fallbeispielen zur intelligencija in Frankreich, Deutschland, Polen und Russland. Ein fünftes Kapitel behandelt zusammenfassend Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den vier Ländern sowie ,,Grundtendenzen der Forschung" (S. 185). Neben der Sozialgeschichte der Intelligenz berücksichtigt Sdvižkov in den vier Länderstudien jeweils auch deren Konzept- und Begriffsgeschichte. Zeitlich konzentriert er sich auf das lange 19. Jahrhundert, setzt anders als Charle aber nicht erst mit diesem ein, sondern beginnt mit den Anfängen der Intelligenz in den mittelalterlichen Städten und Universitäten. Das 20. Jahrhundert wird dagegen nur in kurzen Ausblicken berührt.

Die vier Hauptkapitel sind anschaulich und auf der Höhe der Forschung geschrieben. Sie erlauben tatsächlich einen gewinnbringenden Vergleich zwischen den vier Ländern, der einerseits zeigt, dass sich durchaus von einem europäischen Modell der Intelligenz sprechen lässt, das sich im Zeitalter des Humanismus und der Aufklärung entwickelt und im 19. Jahrhundert zur vollen Blüte entfaltet hat. So formte sich in allen vier Ländern eine Schicht von Gebildeten, die sich selbst als nationaler Kulturträger verstand, gleichzeitig aber im internationalen Austausch mit den europäischen Nachbarn stand. Andererseits macht der Vergleich aber auch die Unterschiede zwischen den vier Ländern deutlich, die sich unter anderem in der Rolle des Staates, der Kirche, der Bildungssysteme oder des Adels zeigen. So verband sich der Aufstieg der Gebildeten auch als staatlicher Funktionselite in Frankreich und Deutschland vor allen Dingen mit dem aufstrebenden Bürgertum, während in Polen und in Russland die intelligencija in Ermangelung eines starken Bürgertums wesentlich durch den (ländlichen) Adel geprägt wurde und stärker antibürgerliche Ressentiments ausbilden konnte. Gleichzeitig war etwa die Intelligenz in Frankreich laizistisch-republikanisch orientiert, während in Deutschland das protestantische Pfarrhaus eine Keimzelle des Bildungsbürgertums bildete. Auf dieser Ebene des Vergleichs besteht eine wesentliche Stärke des Buchs in der gleichgewichtigen Berücksichtigung west- und osteuropäischer Beispiele.

Das fünfte, systematische Kapitel fällt gegenüber den vier Länderkapiteln etwas ab. Hier zeigt sich auch, dass Sdvižkov keiner ganz klaren begrifflichen oder methodischen Linie folgt. Einerseits geht es ihm, wie schon gesagt, nicht um die Geschichte der Intellektuellen als politisch-sozialer Akteure. Andererseits umfasst die Idee der intelligencija mehr als nur die Frage nach den gebildeten Schichten. Dieses Mehr deutet Sdvižkov an verschiedenen Stellen an, etwa wenn er die Bedeutung der Intelligenz beim Aufbau der Zivilgesellschaft (S. 15) hervorhebt oder ihr Verhältnis zur medialen Öffentlichkeit (S. 231) anspricht. Besonders die Frage nach der politischen Öffentlichkeit hätte aber ausführlicher behandelt werden müssen, um die besondere Rolle der Gebildeten bei der Herausbildung der modernen Gesellschaft genauer beschreiben zu können. Das hätte auch eine schärfere Konturierung der Epochengrenzen erlaubt, in denen sich die Darstellung bewegt. Denn deren Ende mit dem Ersten Weltkrieg wird von Sdvižkov nicht klar genug begründet. Er erläutert zwar den ersten Strukturwandel der aufgeklärten Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert (ohne Jürgen Habermas an dieser Stelle zu zitieren). Der zweite Strukturwandel der Öffentlichkeit um 1900, der zur Herausbildung des politischen und medialen Massenmarktes geführt und damit die Rahmenbedingungen der Intelligenz nachhaltig verändert hat, wird von Sdvižkov aber nur angedeutet, wenn er von der ,,Suche nach einem neuen Selbstverständnis der Intelligenz im neuen Massenzeitalter" (S. 98) spricht. Der Übergang vom ,,Zeitalter der Gebildeten" zum ,,Zeitalter der Intellektuellen", der sich um 1900 vollzog und mit dem Sdvižkov seine Untersuchung enden lässt, wird auf diese Weise nicht klar genug markiert.

Letztlich ist das aber ein Kritikpunkt, der vor allen Dingen dann gilt, wenn man in der Perspektive einer Geschichte der Intellektuellen argumentiert. Wer sich dagegen in erster Linie für die Geschichte des Bildungsbürgertums und seiner europäischen Pendants interessiert, dem ist die anschaulich geschriebene und ein weites Forschungsfeld gekonnt zusammenfassende Studie von Denis Sdvižkov vorbehaltlos zu empfehlen.

Daniel Morat, Berlin

Fußnoten:


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