Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Geneviève Pitot, Der Mauritius-Schekel. Geschichte der jüdischen Häftlinge auf der Insel Mauritius 1940-1945, hrsg. von Vincent C. Frank-Steiner, mit einem Geleitwort von W. Michael Blumenthal, Verlag Hentrich & Hentrich, Berlin/Teetz 2008, 253 S., brosch., 19,80 €.
Unter den zahlreichen Exilorten, in die politische, jüdische und intellektuelle Verfolgte aus dem Machtbereich des NS-Regimes flüchteten, gab es auch einige ferne Länder in anderen Klimazonen, die nur wenige Gemeinsamkeiten mit der meist mitteleuropäischen Heimat der erzwungenen Emigranten verband: Bolivien, die Dominikanische Republik, Shanghai, Japan, die Mandschurei, Indien, Angola und andere. In der Regel handelte es sich bei ihnen um Refugien zweiter oder dritter Wahl, weil die begehrten Zielländer USA, Kanada, Brasilien oder Argentinien gegen Ende der 1930er-Jahre ihre Grenzen geschlossen oder gegen eine Einwanderung so hohe Hürden aufgerichtet hatten, dass eine Einreise nur in seltenen Glücksfällen gelang. Das gilt auch für die Länder Afrikas, die sich damals größtenteils noch in europäischem Kolonialbesitz befanden. Man wollte keine fremde Einwanderung, um die einheimische Bevölkerung nicht zu beunruhigen, aber auch, um keine unerwünschten Zeugen der Kolonialpraxis ins Land zu lassen.
In der hier vorzustellenden Darstellung allerdings handelt es sich um einen Sonderfall. Streng genommen war die damals britische Insel Mauritius mit ihren damals etwa 400.000 Einwohnern für die dort vorübergehend untergebrachten jüdischen Flüchtlinge kein Exilort, sondern ein Internierungslager. Niemand hatte diese Insel als Ziel angestrebt, um sich vorübergehend oder vielleicht sogar auf Dauer dort niederzulassen. Alle gelangten unfreiwillig und gegen ihren Willen dorthin. Die Vorgeschichte dieses ,,Exils" auf einer vor Afrika gelagerten Insel ging auf die hier angedeutete Notlage zurück. Eine Gruppe, die schließlich gegen ihren Willen auf Mauritius interniert wurde, bestand im Wesentlichen aus Personen, die eigentlich ins britische Mandatsgebiet Palästina hatten emigrieren wollen. Unter ihnen bildeten ehemalige österreichische Bürger die größte Zahl, gefolgt von Flüchtlingen aus der Tschechoslowakei, Polen, Danzig, Deutschland und anderen Ländern.
Die Studie schildert ausführlich die abenteuerliche und leidvolle Fahrt dieser Gruppe auf Flussschiffen auf der Donau bis ins Mittelmeer, wo sie nach unfreiwilligen Stationen auf Zypern schließlich vor der Küste Palästinas von britischem Militär aufgebracht wurde. Es folgte eine mit vielen Schikanen verbundene Internierung auf dem Festland und danach die Deportation von knapp 1.600 Personen nach Mauritius. Dort wurden sie in einem leer stehenden Gefängnis der Inselhauptstadt Beau Bassin - nach Geschlechtern getrennt - untergebracht.
Die Flüchtlinge waren zwar den Verfolgungen durch das NS-Regime entkommen, sie hatten die qualvollen Bedingungen der verschiedenen Schiffsreisen hinter sich, aber sie waren nicht in die Freiheit entlassen worden. Jede Verbesserung der Lage musste der Verwaltung gegen den Widerstand der Bürokratie des Kolonialministeriums in London, des britischen Gouverneurs oder der Lagerkommandantur abgerungen werden. Nur allmählich bildeten sich Strukturen eines gemeinsamen Lebens. Arbeit und Funktionen wurden aufgeteilt, eine Vertretung gegenüber der Lagerverwaltung wurde gewählt, sanitäre und hygienische Verhältnisse besserten sich mit der Zeit ebenso wie die medizinische Versorgung oder die Küche. Sogar ein gewisses Kulturleben konnte sich entwickeln, und als besondere Vergünstigung durften die Internierten unter polizeilicher Aufsicht sogar an den Strand oder Exkursionen mit dem Bus über die Insel unternehmen. Materielle und politische Hilfe kam teilweise von jüdischen Organisationen in Palästina und Südafrika.
Diese Unterstützung konnte aber nicht verhindern, dass zeitweilig die Behandlung wieder restriktiver wurde, weil 1943 mehrere britische Schiffe im Indischen Ozean von deutschen oder japanischen U-Booten versenkt worden waren und man die Internierten verdächtigte, den Feinden möglicherweise Lichtzeichen gegeben zu haben. Das Verhalten der britischen Behörden löste Unruhen im Lager aus, die im Juni 1944 eskalierten und zu einem Streik und schließlich zu einem Sturm der Internierten auf die Verwaltungsgebäude der Lagerkommandantur führten. Diese setzte hiergegen Militär ein, weil sie der mauritianischen Polizei nicht sicher war. Im Februar 1945 genehmigte die britische Regierung endlich die Ausreise der Internierten nach Palästina. Aber diese zog sich durch kriegsbedingte Schwierigkeiten noch monatelang hin, und erst im August 1945 betraten die letzten das Land, in das sie sechs Jahre zuvor aufgebrochen waren. Auf Mauritius erinnert heute noch ein jüdischer Friedhof mit 127 Gräbern von dort verstorbenen Internierungshäftlingen an dieses qualvolle Kapitel der jüdischen Emigration.
Die 2002 in Bad Homburg verstorbene Verfasserin dieser interessanten Studie war selbst Mauritianerin, die als Kind selbst noch die Anwesenheit der Internierten erlebt hatte. Mitgefühl und die Sympathie für diesen Personenkreis bestimmen den Duktus der Studie. Von Beruf Bauingenieurin, eignete sie sich das historische Handwerkszeug an. Ihre gründlich recherchierte Studie stützt sich auf Archivalien in Mauritius und Großbritannien, auf schriftliche Mitteilungen und autobiografische Manuskripte von Zeitzeugen sowie auf die einschlägige (englischsprachige) Literatur, soweit sie ihr bekannt bzw. sprachlich zugänglich war. Sie untersucht ihr Thema aus unterschiedlichen Perspektiven, bezieht politische, soziale, kulturelle und psychologische Maßstäbe in ihre Betrachtungen ein, von der Behandlung des Themas eine ausgereifte Arbeit, die durch aufschlussreiches Bildmaterial, vor allem aber Zeichnungen und Briefe von Zeitzeugen abgerundet wird.
Wenn man dennoch einige kritische Anmerkungen vorbringen will, dann eine über die nicht ganz überzeugende Gliederung der Untersuchung. Eine stärker nach Sachfragen statt nach Zeit- bzw. Jahresabläufen gegliederte Studie würde die Ergebnisse deutlicher akzentuieren. Leider lässt auch die Übersetzung aus dem Englischen unter Verwendung der französischen Urfassung zu wünschen übrig. Sie überträgt wörtlich die fremdsprachigen Satzstrukturen ins Deutsche, was der Lesbarkeit des Textes abträglich ist. Auch Orthografie und Interpunktion lassen eine größere redaktionelle Sorgfalt vermissen. Dies ist um so bedauerlicher, als ein so interessanter Text diese Nachlässigkeit nicht verdient hat.
Patrik von zur Mühlen, Bonn