Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Holm Kirsten, Das sowjetische Speziallager Nr. 4 Landsberg/Warthe, Wallstein Verlag, Göttingen 2005, 159 S., kart., 18,00 €.
Die Geschichte sowjetischer Speziallager in der sowjetischen Besatzungszone konnte erst seit Anfang der 1990er-Jahre aufgearbeitet werden. (1) Dabei ist die Erfassung der frühen Einrichtungen in den neuen polnischen Gebieten ein Forschungsdesiderat geblieben. Holm Kirsten macht sich in seiner Arbeit über die Geschichte des Lagers Nr. 4 in Landsberg/Warthe daran, diese Lücke zumindest in Teilen zu schließen. Hierfür hat er in mühevoller Kleinarbeit Quellen höchst unterschiedlicher Provenienz zusammengetragen: Seine Studie stützt sich nicht nur auf die relevanten Bestände der Verwaltung für Speziallager in Moskauer Archiven, sondern auch auf vereinzelte polnische Materialien sowie auf die überraschend zahlreichen Erinnerungsberichte von Zeitzeugen. Diverse aktuelle Interviews mit Überlebenden runden den umfassenden Zugriff ab. Herausgekommen ist eine detaillierte Rekonstruktion von Verwaltung, Aufbau und Lebensbedingungen in Landsberg, die durch (meist) aussagekräftige Karten, zeitgenössisches Fotomaterial sowie eine gelungene Auswahl sowjetischer Dokumente in mitunter ungleichmäßiger Übersetzung abgestützt wird. Schon diese Dokumente unterstreichen grundlegende Probleme, mit denen sich die heutige Forschung konfrontiert sieht. So fehlen auch in den sowjetischen Akten zuverlässige Angaben über Belegung und Sterblichkeit: Noch im März 1946 etwa mussten sowjetische Offiziere feststellen, dass nicht alle Lagerinsassen ordnungsgemäß registriert waren (S. 143-145, Übergabeprotokoll des Speziallagers 8). Unter Berücksichtigung derartiger Unwägbarkeiten kommt Kirsten zu dem Schluss, dass während der relativ kurzen Existenz des Speziallagers Nr. 4, von Mai 1945 bis März 1946, rund 13.000 Internierte das Lager durchliefen. Von diesen verstarben nach heutigen Erkenntnissen ca. 2.250 in der Haft. Diese Angaben korrigieren etwa frühere Schätzungen der ,,Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit" deutlich nach unten: Deren frühe Bilanzen verweisen einmal mehr auf die direkte Relevanz des Gesamtthemas für deutschlandpolitische Diskussionen im Kalten Krieg zurück. Leider verzichtet Kirsten in seiner Darstellung auf solch weiter gefasste Kontextualisierungen der Lagergeschichte oder ihrer Aufarbeitung. Ein anderer möglicher Ansatzpunkt hierfür wäre eine kritische Analyse der Zeitzeugenberichte hinsichtlich der tradierten Russlandsbilder. So zitiert Kirsten relativ häufig die Autobiografie von Arnold Bacmeister. Der Oberregierungsrat war von 1938 bis 1945 immerhin Leiter der Filmprüfstelle im Reichspropagandaministerium, und sein Rückblick von 1992 wirft nicht nur ein bezeichnendes Licht auf lange Kontinuitäten althergebrachter Feindbilder resp. Überlegenheitsphantasien, sondern auch auf den nicht unproblematischer Quellenwert solch kolorierter Zeugnisse. (S. 44, 71f., 78; zur Biografie S. 100). (2)
Die Entwicklung sowjetischer Hafteinrichtungen in Landsberg belegt einmal mehr die Komplexität sowjetischer deutschlandpolitischer Ambitionen und Maßnahmen. Nachdem das zur ,,offenen Stadt" erklärte Landsberg am 30. Januar 1945 kampflos von der Roten Armee besetzt worden war, rief die Besatzungsmacht zunächst einmal alle NSDAP-Mitglieder zur Meldung auf. Die Deutschen, die dem Aufruf nachkamen, wurden in verschiedenen Kellern bzw. Wohnhäusern inhaftiert und wenig später in das Lager Schwiebus abtransportiert. Die übrige Zivilbevölkerung wurde derweil zum Arbeitseinsatz herangezogen und hierzu zumindest teilweise in Arbeitslagern festgehalten. Im Zuge der sowjetischen sogenannten Mobilisierung deutscher Zwangsarbeiter zum Einsatz in der UdSSR kamen schließlich männliche Deutsche aus Landsberg und Umgebung in die Landsberger General-von-Strantz-Kaserne, um von hier über weitere Stationen in die Sowjetunion abtransportiert zu werden. Derartige Transporte zogen sich noch Wochen über die zentrale Einstellung der ,,Mobilisierungen" hinaus hin. Parallel hierzu wurde die Kaserne in das Speziallager Nr. 4 für Internierte umgewidmet. Das sowjetische Zwangsinstrumentarium in Landsberg wurde durch die allfälligen sowjetischen Einrichtungen für ehemalige sowjetische Kriegsgefangene und zwangsverschleppte Zivilisten, die ,,Filtration" und Repatriierung harrten, sowie durch Sammel- und Durchgangslager für deutsche Kriegsgefangene vervollständigt. Damit drängten sich auch in Landsberg auf engem Raum stalinistische Lagergesellschaften zusammen, und zwar ungeachtet der Tatsache, dass in Landsberg bereits am 28. März 1945 eine polnische Verwaltung ihre Arbeit aufgenommen hatte.
Kirstens Analyse der Häftlingsströme legte eine hohe Zwangsmobilität innerhalb des frühen Speziallagersystems offen. Großtransporte erreichten Landsberg ab Sommer 1945 aus Berlin, Frankfurt/Oder bzw. Ketschendorf, Posen und Weesow, während Häftlinge aus Landsberg beispielsweise nach Hohenschönhausen zum Aufbau des dortigen Lagers verlegt oder ab Herbst 1945 in relativ großer Zahl - rund 20 Prozent der Landsberghäftlinge insgesamt - entlassen wurden. Die letzten Gründe für Verlauf und Richtung der konkreten Häftlingsbewegungen sind nicht immer fassbar: Selbst die Entlassungskategorien von Herbst 1945 deckten sich keinesfalls zwangsläufig mit entsprechenden Festlegungen des NKWD-Befehls vom 18. April 1945. Dass im Herbst 1945 parallel zu den Entlassungsaktionen mehrere Hundert Insassen aus Landsberg auf eine Reise geschickt wurden, die nur wieder in Landsberg endete, verweist zugleich auf das hohe Maß an Desorganisation und lokalen Freiheiten innerhalb des Lagersystems zurück (S. 45f.). Eine deutliche Organisationslinie lässt sich aber zumindest ab Dezember 1945 mit der sukzessiven Auflösung der sowjetischen Lager im neuen Polen und der entsprechenden Verlegung des Gros des Landsberger Häftlingskontingents nach Buchenwald feststellen; hier ist von rund 5.700 verlegten Internierten auszugehen. Das letzte Demontagekommando aus Landsberg fuhr allerdings in die Torgauer Internierungsstätte.
Die hohe Sterblichkeit der Neuankömmlinge in Buchenwald liest sich als Konsequenz der Lebensbedingungen im Lager Nr. 4, die Kirsten umfassend darstellt: Unterverpflegung, untragbare sanitäre und medizinische Versorgungsbedingungen sowie der zermürbende Zwang zur Untätigkeit stellten auch in Landsberg die verderblichen Hauptmerkmale sowjetischer Internierungspraxis dar. In diesen Hauptaspekten gleichen die Verhältnisse in Landsberg der Gesamtsituation anderer Speziallager. Auch die Haftgründe der Internierten mit einer deutlichen Mehrheit von NSDAP-Mitgliedern mittlerer oder niederer, lokaler Funktionen weicht kaum von anderen Belegungsmustern ab. Der hohe Anteil Berliner Häftlinge führte indes zu einer hervorstechenden Ansammlung von ,,Prominenten" aus Staat, Partei oder Wirtschaft, die in unproportionaler Ausführlichkeit gleich doppelt vorgestellt werden (S. 67ff., S. 100ff.). Neben dem bereits erwähnten Bacmeister sind hier etwa Richard Oberländer, bei Daimler-Benz Leiter des Panzerbaus, oder Mitglieder des Freundeskreises Reichsführer SS wie Alfred Olscher und Rudolf Bingel zu erwähnen. Neben ihnen hatte sich die Besatzungsmacht aber 1945 eben auch Ernst von Borsig gegriffen, der im Dritten Reich Kontakte zum Kreisauer Widerstandskreis gepflegt hatte. Borsig verstarb noch im September 1945 in Landsberger Haft. Schließlich wurden von den Anfang 1946 nach Buchenwald überstellten Landsberger Internierten 1950 190 Personen in den berüchtigten Waldheimer ,,Prozessen" vor ostdeutsche Gerichte gestellt - diese Schlaglichter unterstreichen erneut die verstörende Multifunktionalität sowjetischer Speziallager, die sich faktisch als Instrument einer neuen Diktaturdurchsetzung und nicht als Ort der Vergangenheitsaufarbeitung erwiesen.
Andreas Hilger, Hamburg
Fußnoten:
1 Sergej Mironenko/Lutz Niethammer/Alexander von Plato (Hrsg.), Sowjetische Speziallager in Deutschland 1945 bis 1950, 2 Bde., Berlin 1998.
2 Arnold Bacmeister, Der lange Weg nach Buchenwald. Autobiographie, Berlin 1992.