ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Am 19. März letzten Jahres wäre der 2001 verstorbene Literaturhistoriker Hans Mayer hundert Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass veröffentlichte der Leipziger Verleger Mark Lehmstedt zwei gewichtige Bände in klassischem Design mit Briefen und Dokumenten von und über Mayer. Der 2006 erschienene Band versammelt 355 Briefe, die Lehmstedt in verschiedenen Nachlässen und Sammlungen recherchiert hat. Diesen Korpus hat der Herausgeber mit einem aussagekräftigen Anmerkungsteil versehen, der die Briefe in ihren Kontext stellt, das Register gibt zudem knappe Anmerkungen zu den einzelnen Personen.

Nach einem schwierigen Leben im Exil und einem Neuanfang in der amerikanischen Besatzungszone wurde Mayer 1948 nach Leipzig berufen, wo er zunächst Kultursoziologie, später Literaturwissenschaft lehrte. Vor vollen Hörsälen entfaltete er eine Vortragskunst, die seine Schüler bannte (,,Der Andrang zu meinen Vorlesungen im großen Hörsaal ist jetzt der Art, dass schon eine Viertelstunde vor Beginn alles überfüllt ist.", Brief an Walter Wilhelm vom 11. November 1949). Legendär sind die von ihm veranstalteten Lesungen im Hörsaal 40 mit Schriftstellern und Germanisten aus Ost und West, darunter Anna Seghers und Günter Grass, Walter Jens und Fritz Martini. Die Briefe sind Zeugnis eines unermüdlichen Geistes. Sie hinterlassen den Eindruck eines produktiven, manchmal gehetzten Menschen, der von Termin zu Termin, von Vorlesungen im vollbesetzten Leipziger Hörsaal zu Reden anlässlich der großen Goethe- oder Schillerfeiern 1949 und 1955, von Vortragsreisen in Ost- und Westdeutschland zur Durchsicht von Aufsatz- und Buchmanuskripten eilte. Dabei war er akribisch, selbstgewiss, manchmal überkritisch und ungehalten.

Neben dieser weitgefächerten Tätigkeit sind auch die immer wiederkehrenden Konflikte Mayers mit den parteipolitischen Instanzen in den Briefen dokumentiert. Sie basieren nicht zuletzt auf einer grundlegenden Kritik am geistigen Niveau der DDR. Hierzu schrieb er in einem Brief an Johannes R. Becher im März 1953: ,,Mein Missbehagen beim Anblick unserer literarischen und literaturkritischen Verhältnisse ist überaus tief. Es würgt mich oft geradezu der Ekel." Öffentlich macht er seinem Unmut 1956 Luft, als er in einem Artikel ,,Zur Gegenwartslage unserer Literatur", in dem er die DDR-Literatur gegenüber den Werken der 1920er-Jahre als dürftig bewertete. Diese Kritik fiel in die Zeit nach der Tauwetterperiode, in die Zeit der Niederschlagung des Aufstands in Ungarn und der Verhaftung von Wolfgang Harich und Walter Janka. 1956/57 startete eine ,,ideologische Offensive" in der DDR, die sich gegen sogenannte Abweichler und unorthodoxe Marxisten richtete. Damit kam auch Mayer, als Freund von Ernst Bloch, ins Visier des Ministeriums für Staatssicherheit.

Über die Überwachung Mayers gibt der zweite Band Auskunft, in dem Lehmstedt umfangreiches Material zusammengetragen und durch informative Anmerkungen kontextualisiert hat. Ein Operativer Vorgang (OV) wird unter dem Decknamen ,,Literat" über Mayer zwar erst im März 1962 angelegt, doch hat der Leser bis zu diesem Zeitpunkt bereits über 370 Seiten Berichte und Einschätzungen gelesen, zusammengetragen aus dem OV ,,Wild", der Bloch und dessen Umfeld umfassend überwachte.

Dieses Material setzt sich zusammen aus Abhörprotokollen (eine Wanze in der Wohnung der Blochs), ausführlichen Berichten der Parteiinstanzen der Leipziger Karl-Marx-Universität sowie aus Berichten von Geheimen Informatoren, die regelmäßig Auskunft über Mayers politische Einstellung und seine charakterliche Vorzüge und v.a. aber Nachteile abgaben. Ein großer Teil dieser Informanten rekrutierte sich aus Mayers wissenschaftlichem Umfeld, waren Mitarbeiter und Assistenten.

Die beiden Bände ergänzen einander, und die Empfehlung des Herausgeber ist durchaus zutreffend, sie parallel und unter Hinzunahme der Memoiren Mayers zu lesen. Die Briefe zeigen einen hochproduktiven Mayer, agierend im kulturellen und literarischen Netzwerk in Ost und West. Die (kultur)politischen Konflikte finden sich hier eher in Anmerkungen, selten in so konkreter Form wie an Becher. Wesentlich umfangreicher ist die Auseinandersetzung mit dem ,,Problem" Mayer in den Akten des MfS. Der Vorwurf: Weder sein Werk noch sein Wirken stehe auf marxistischen Grundlagen, seine ästhetische Bewertung von Literatur sei unmarxistisch. Seine Reisen nach Westdeutschland wurden mit Argusaugen beobachtet und abgewogen: Schwächt er mit seinem Revisionismus die Wissenschaftlichkeit des marxistischen Materialismus oder fördert er mit seinem Auftreten das Bild einer offenen und toleranten DDR (Bericht des MfS zur Person und politischen Haltung Mayers vom 10. März 1961)? Auch die universitätsinternen Konflikte werden in diesem Band deutlich. Neben den Auseinandersetzungen Mayers mit dem Germanistikprofessor Theodor Frings um die Stellung im Germanistischen Institut oder die um die Mitgliedschaft Mayers in den Wissenschaftlichen Akademien der DDR (die Frings erfolgreich verhinderte) sind auch die parteiinternen Auseinandersetzungen nachzuvollziehen. In Sitzungen der SED-Organisationen wird diskutiert, wie mit dem unorthodoxen Mayer zu verfahren sei: ,,Mayer hält sich für einen Marxisten, ist dies aber weder in seinem persönlichen Verhalten noch in allen Bereichen seiner wissenschaftlichen Ansichten. [...] Dennoch dürfen wir nicht darauf verzichten, den reichen Wissensschatz von Prof. Mayer der Ausbildung unserer Studenten nutzbar zu machen. Eine offene Auseinandersetzung von den revisionistischen Positionen von Prof. Mayer wird aber durch die ständig offene Gefahr seines Ausscheidens behindert." (Siegfried Streller, Referat zur Parteiversammlung der SED-Grundorganisation Germanisten am 15. Januar 1960). Auf der Universitätsebene finden sich auch die meisten Zugeständnisse Mayers, etwa in Personalfragen oder bei der Einführung des gesellschaftlichen Grundstudiums, das er unterstützt. Von Seiten des MfS wurden diese Schritte jedoch mit Misstrauen betrachtet. Mayer unterliege ,,politischen Schwankungen", seine politische Grundhaltung sei negativ, nach außen aber gebe er sich ,,in doppelzünglerischer Weise positiv, zumeist loyal" (Bericht des MfS zur Person und politischen Haltung Mayers vom 10. März 1961).

Neben Überzeugungsgesprächen versuchte die SED auch mit Ausgrenzung, Drohungen, gezielten, in öffentlichen Organen ausgetragene Kampagnen sowie durch den Ausbau der Überwachung Mayer auf Linie zu bringen. Mayer reagierte ebenfalls mit verschiedenen Strategien. Wiederholt drohte er - sich seiner Bedeutung in der DDR bewusst - mit der Niederlegung aller Ämter (,,Ich bleibe dann als Privatmann [...] in Leipzig und bin ein Mythos", so in einem Brief an Arnolt Bronnen vom 2. Juni 1958) oder er erwog offen, einen Ruf nach Westdeutschland anzunehmen. Tatsächlich aber war die Übersiedlung in den - in seinen Augen - imperialistischen, revanchistischen und sich refaschisierenden Westen für ihn lange Zeit keine Option. Der GI ,,Rengies" sprach von einem ,,Antisemitismuskomplex", der es Mayer, dessen Familie im KZ ermordet worden war, unmöglich mache, in die Bundesrepublik zu gehen (Bericht vom 21. März 1958).

Die ,,offenen" Kampagnen setzten Mayer sehr zu, 1957 erlitt er einen Herzanfall. Später ließ er sich auf diese Form der Auseinandersetzung nicht mehr ein, sondern forderte das Gespräch mit hohen Kulturfunktionären, wie etwa mit Kurt Hager, der ihn 1958 beruhigen und zur Weiterarbeit motivieren konnte. Die darauf folgenden Jahre sind geprägt von einer beidseitigen Annäherung. Doch nach dem Mauerbau 1961 wurde es für Mayer in der DDR erneut schwierig. Die Freunde Ernst Bloch und Werner Krauss waren in Westdeutschland geblieben, Mayer sah sich einer erneuten Hetzkampagne ausgesetzt und der Überwachungsgrad erhöhte sich. An einem Punkt, an dem ,,nahezu alle Voraussetzungen weggefallen sind, die mich vor fünfzehn Jahren veranlasst hatten, von Frankfurt am Main aus dem Ruf der Leipziger Universität Folge zu leisten", kehrte Mayer von einer Vortragsreise nicht zurück in die DDR.

Die Bände nähern sich Mayer aus verschiedenen Perspektiven. Zum einen hat der Leser teil an der durchaus selbstsicheren Eigenwahrnehmung Mayers, in der sich auch die Illusion spiegelt, dass er für die DDR unersetzbar sei. Gleichzeitig kann man anhand der MfS-Dokumente die Sicht auf Mayer nachvollziehen, und diese war bereits früh von einem grundsätzlichen Misstrauen geprägt. Vor diesem spannungsgeladenen Hintergrund können die von Annäherung und Distanzierung geprägten Prozesse hier nachvollzogen werden, was die beiden Bände für die Beschäftigung mit Mayer unentbehrlich macht. Doch darüber hinaus können sie auch von jedem zur Hand nehmen, der sich mit weiterführenden Aspekten der DDR-Geschichte befasst: Sie geben Zeugnis von produktiven kulturellen Zentren der frühen DDR; sie verweisen auf Konflikte im Universitäts- und Wissenschaftsgefüge der Leipziger Universität; sie enthalten Quellen über die Lage jüdischer Intellektueller in der frühen DDR. Als Zeugnis von Aktion und Reaktion im kulturellen und politischen Feld der deutschen Nachkriegszeit seien diese Bände jedem, der sich mit ihr befasst, wärmstens ans Herz gelegt.

Anna Lux, Leipzig


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