ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Michael Kapellen, Doppelt leben. Bernward Vesper und Gudrun Ensslin. Die Tübinger Jahre, Klöpfer und Meyer Verlag, Tübingen 2005, 196 S., geb., 19,50 €.

Nachdem Michael Kapellen Essays über Paul Celan, Georges Perec, Paul Scheerbart, Hans Morgenthaler, Peter Hille und Jean Paul geschrieben hat, konzentriert er sich in seiner neuen Arbeit auf Bernward Vesper und seine Freundin Gudrun Ensslin. In drei Kapiteln setzt er sich mit dem ,,Nazisohn" (1938 geboren) - der sich während des Studiums in Tübingen vom übergroßen Einfluss seines Vaters Will Vesper lossagte - und mit dem späteren Gründungsmitglied der ,,Roten Armee Fraktion", Gudrun Ensslin, auseinander.

Betrachtet man allein die Vorbemerkung dieses Buches, so fällt es wohltuend auf, dass weder vorschnelle Zuschreibungen vorgenommen noch klischeehafte Erklärungen für komplexe Sachverhalte - beispielsweise über die außerparlamentarische Opposition oder über die Geschichte der RAF - angeboten oder undifferenzierte Urteile über das Verhalten der Akteure gefällt werden. Zwar insistiert der Verlag darauf, dass ,,gewissermaßen eine Vorgeschichte der 68er und auch ein erstes Stück aus der Motivgeschichte der RAF" (Klappentext) erzählt werde, aber es ist ein Anspruch, der von Kapellen nicht erhoben wird. Tatsächlich ist die RAF nicht sein Thema. Er maßt sich kein Urteil über den Entstehungskontext des bundesdeutschen Terrorismus an, sondern grenzt sein Thema - ausschließlich die Studienzeit Vespers und Ensslins in Tübingen von 1961 bis 1964 - sorgfältig ein. So warnt er ausdrücklich davor, ,,wenn man, wie es zuweilen geschieht, in einem Akt des nachträglichen Exorzismus die RAF als eine kleine banale Räuberbande lächerlich zu machen versucht oder einige ihrer Mitglieder wegen schlechter Manieren aburteilt - und sich damit die Mühen eines weiteren Nachdenkens über diese Terroristengruppe und über das Phänomen des Radikalismus und Terrorismus insgesamt sparen zu können glaubt". (S. 13).

Bewertet man solche Äußerungen vor dem Hintergrund der politischen Brisanz des Themas RAF im Jahre 2007, die sich in politischen Grabenkämpfen, kaum überbrückbaren Polarisierungen oder in wechselseitigen Unterstellungen und Ressentiments widerspiegelte, erscheint ihre Relevanz mehr als berechtigt. Unbestritten ist die Materie für einen eindimensionalen Blick ,,viel zu komplex" (S. 14). Vielmehr besteht das Ziel von Kapellen darin, eben diese Komplexität und Widersprüchlichkeiten nachzuzeichnen, wenn auch in groben Zügen, wie er selbst schreibt.

Das erste Semester Vespers in Tübingen im Jahre 1961, seine Briefe aus dieser Zeit und Besuche, nicht nur bei ,,alten Kameraden" seines Vaters, sondern auch bei Walter Jens, vermitteln eine Vorstellung eines von Widersprüchen zerrissenen Menschen. Kapellen arbeitet heraus, in welchem Maße Vesper einerseits bemüht war, das in der Nachkriegszeit verschollene Werk seines Vaters wieder ,,salonfähig zu machen" (S. 26), überhaupt den wegen seiner nationalsozialistischen Vergangenheit diskreditierten Vater zu rehabilitieren. Dabei wird sichtbar, wie stark die Identifikation mit seinem Vater gewesen sein muss. Andererseits war der Sohn darum bemüht, seine eigenen linken politischen Positionen zum Ausdruck zu bringen und sich von seinem Vater abzugrenzen, nicht nur politisch, sondern auch literarisch. Um die Widersprüchlichkeit zu unterstreichen, weist der Autor anhand einer redigierten Urfassung eines Artikels nach, dass Bernhard Vesper sich während seiner Tübinger Zeit ,,von den nationalistischen Tonlagen in seiner Sprache noch nicht restlos freigeschwommen hatte". Ausgeklammert wird auch nicht, dass der ,,mit starker rechter Schlagseite schreibende[n] Jungautor" (S. 27) und ,,Burschenschaftler" in den fünfziger Jahren einzelne Beiträge in rechten Zeitungen und Zeitschriften veröffentlichte oder im Jahre 1963 mit der Veröffentlichung einer Gesamtausgabe seines Vaters diesem ein Denkmal setzen wollte.

Tatsächlich geht es Kapellen immer wieder um Vespers seltsame Unentschlossenheit und Widersprüchlichkeit, um seine Ausschweifungen oder gelegentlichen Alkoholexzessen (S. 120), überhaupt um die ,,zwei Seelen in seiner Brust". Vespers Versuche, literarisch, editorisch und politisch in Tübingen hervorzutreten, spiegeln ebenso wie der Aufbau des eigenen Verlags seine ,,Doppelexistenz" und sein ,,Doppelt leben" wider: der Sohn des übermächtigen völkischen ,,Nazi-Dichters" Will Vesper und der Verfechter linker Ansichten bzw. der ,,spätere APO-Aktivist". So wird er gemeinsam mit Ensslin im Jahre 1964 die Anthologie ,,Gegen den Tod. Stimmen deutscher Schriftsteller gegen die Atombombe" herausgeben, in der namhafte Schriftsteller Stellung bezogen. Gerade hier wird deutlich, dass Verhaltensmuster und Handlungen der einzelnen Akteure im zeithistorischen Kontext hinterfragt respektive in die Kontroversen der jeweiligen Zeit gestellt werden müssen.

Dass es in dem vorliegenden Buch in erster Linie um Bernward Vesper und nur am Rande um seine Freundin und Verlobte - Gudrun Ensslin - geht, erklärt sich insbesondere aus der Quellenlage, primär Briefe und frühe literarische Arbeiten Vespers. In der Tat taucht die junge Studentin und spätere Mitbegründerin der RAF erst auf Seite 84 (von insgesamt 164 Seiten) auf, wobei sie jedoch fast ausschließlich als ,,Sekretärin für seine unterschiedlichen Publikationspläne - von den Veröffentlichungen der Werke des Vaters bis hin zu den eher avantgardistischen Literaturprojekten" (S. 108, S. 138) keine klaren Konturen gewinnt. Zitate aus ihren Briefen an ihren Verlobten oder die von ihr verschickten Appelle an das ,,nationale Deutschland" scheinen auch ihr nationalistisches Engagement während ihrer Zeit in Tübingen zu belegen. Beklemmend ist, in welchem Maße Ensslin sich ,,völlig in den Vesperschen Familienbetrieb integrier(en)" lässt (S. 138).

Insgesamt ist man beim Lesen einzelner Textpassagen überrascht, mit welcher Leichtigkeit Vesper wie auch Ensslin von einem ideologischen Lager ins andere wechseln. Inwieweit sie selbst ihr Lavieren zwischen gegensätzlichen politischen Positionen und ästhetischen Auffassungen ,,als ein spannendes und manchmal auch spaßisches Strategiespiel vor nicht ganz realer Kulisse auffassten" (S. 144) - wie Kapellen bemerkt - bleibt dahingestellt. Vesper beging nach Aufenthalten in der Psychiatrie am 15. Mai 1971 Selbstmord.

Gisela Diewald-Kerkmann, Bielefeld


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