Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Kerstin Brückweh, Mordlust. Serienmorde, Gewalt und Emotionen im 20. Jahrhundert (Historische Studien, Bd. 43), Campus-Verlag, Frankfurt/Main 2006, 512 S., kart., 44,90 €.
Kerstin Brückwehs umfassende Studie behandelt die Kommunikation über Serienmorde auf den Ebenen des sozialen Nahraums zwischen Nachbarschaft und Ermittlungsbehörden, des Justizwesens und der wissenschaftlichen Expertise sowie der medialen Öffentlichkeit im Deutschland des 20. Jahrhunderts. Im Zentrum steht dabei das kulturell codierte Verhältnis von Emotionen und Gewalt. Die Arbeit ist nicht flächendeckend angelegt, sondern basiert auf der Analyse von Fallbeispielen. Diese werden von vier prominenten Tätern in der Weimarer Republik, dem ,,Dritten Reich", der Bundesrepublik und der DDR geliefert, die alle männliche Kinder bzw. Jugendliche töteten: Fritz Haarmann, Adolf Seefeld, Jürgen Bartsch und Erwin Hagedorn. Während die kulturelle und mediale Thematisierung von Serienmorden für die Weimarer Periode bereits einige Male behandelt worden ist, kann Brückweh mit ihrem konzeptionell wie zeitlich umfassenden Zugriff mit Recht beanspruchen, über die bisherige Forschung hinauszugehen.
Im ersten Teil arbeitet die Autorin heraus, dass alle vier Täter bereits vor ihren Morden durch sexuelle Belästigung und Gewalt aufgefallen und dabei teilweise von Mitwissern und -tätern unterstützt worden waren. Doch besonders den betroffenen Jungen fiel es schwer, dies zu kommunizieren, weil sie leicht selbst als homosexuell und damit mitschuldig wahrgenommen werden konnten. Gewisse Grenzüberschreitungen erschienen in der Nachbarschaft als gerade noch akzeptabel bzw. durch Kommunikation mit den Eltern der Missetäter (in den Fällen von Bartsch und Hagedorn) restituierbar. Die Sensibilität gegenüber sexueller Belästigung und Gewalt war deutlich weniger ausgeprägt als heute. Da die Ermittlungsbehörden ihre Aktivititäten auf die späteren, außerhalb dieses Nahraums begangenen Morde konzentrierten und die Perspektive der Opfer marginalisierten, wurden die Täter aus ihrem sozialen Umfeld herausdefiniert und zu fremden Einzeltätern erklärt. Deshalb waren Außenseiter, in der Weimarer Republik Homosexuelle, im ,,Dritten Reich" Juden und in der DDR Westdeutsche (für die Behörden) und sowjetische Soldaten (in der Bevölkerung) bevorzugte Verdächtige.
Der zweite Teil zeigt zunächst, wie für die Prozesse Gutachter ausgewählt wurden. Dabei wurden pathologisierende Ansätze hartnäckig gegen die neuen Einflüsse der Psychoanalyse (wie Theodor Lessing im Falle von Haarmann vorschlug) und der Sexualwissenschaft (was Bartschs Verteidiger im ersten Prozess 1967 vergeblich anstrebte) verteidigt, bis beide im zweiten Prozess gegen Bartsch 1971 akzeptiert wurden. Gleichzeitig beharrten die Gutachter auf der Zurechnungsfähigkeit und Verantwortlichkeit der Täter, wenngleich im Prozess gegen Hagedorn 1971 auch das familiäre Umfeld berücksichtigt (damit aber auch die ,,sozialistische Gesellschaft" entlastet) wurde und im zweiten Prozess gegen Bartsch seine Heimerziehung zur Sprache kam. Entsprechend fielen die Gerichtsurteile aus, die sowohl in der Weimarer Republik als auch in der Bundesrepublik kontrovers in den Medien diskutiert wurden, was den Bundesgerichtshof erst dazu bewegte, das Verfahren gegen Bartsch noch einmal aufzurollen. Drei der Täter wurden exekutiert: Haarmann wollte sich dabei ,,als Mann" und Seefeld (vergeblich, weil über ein angebliches Geständnis berichtet wurde) als ,,unschuldig" präsentieren. Hagedorn hatte keinerlei Gelegenheit, sein eigenes Bild zu beeinflussen, weil er von jeglicher Öffentlichkeit verborgen durch plötzlichen Genickschuss hingerichtet und sein Körper beseitigt wurde. Für Bartsch fand sich trotz der um 1970 einsetzenden Bemühungen keine Therapie, so dass seinen Ärzten wie ihm selbst die Kastration als die einzige Lösung erschien; allerdings verstarb er während der Operation.
Im Mittelpunkt des dritten Teils stehen die Wechselbeziehungen zwischen Medienberichterstattung und Medienrezeption. Leserbriefautoren reagierten emotional auf Artikel zu den Bartschprozessen; einige Stimmen erwähnten eigene Erfahrungen sexueller Gewalt, während sich die meisten - insbesondere in der BILD-Zeitung - für härtere Strafen aussprachen. Die nationalsozialistische Propaganda nutzte den Fall Seefeld, um Sicherungsverwahrung, zentralisierte Polizeiarbeit und Todesstrafe zu loben und sich so vom Weimarer ,,System" abzugrenzen. In Hannover trat der österreichische Bildhauer Alfred Hrdlička seit den frühen 1970er Jahren mit Arbeiten zu Haarmann hervor. Diese wurden zunächst weithin ignoriert, aber 1991 als Versuch einer Denkmalserrichtung wahrgenommen. In Margarete Schreinemakers' Fernsehshow und in der BILD-Zeitung gerieten die städtischen Kulturpolitiker gegenüber zahlreichen Bürgern, die dezidiert ihre Ablehnung zum Ausdruck brachten, in die Defensive. Die DDR-Behörden ließen nur regional und um Hinweise für die Fahndung zu erhalten über den Fall Hagedorn berichten. Doch 1975 mussten sie sich mit den Enthüllungen des westdeutschen Journalisten Friedhelm Werremeier insbesondere zur Exekution des Täters herumschlagen, die von der BILD-Zeitung aufgegriffen und zur vergleichenden bundesrepublikanischen Selbstbestätigung genutzt wurden. Funktionäre versuchten vergeblich, den diesen Berichten zugrunde liegenden ,,Geheimnisverrat" aufzuklären. Zur Schadensbegrenzung verbaten sie die Ausstrahlung einer sich mit Sexualmord beschäftigenden ,,Polizeiruf 110"-Folge.
Bei der Beurteilung des Buches ist zunächst anzumerken, dass ihm eine Straffung und übersichtlichere Struktur gut getan hätten. Gleichzeitig hätten Hintergrundinformationen zur jeweiligen lokalen Gesellschaft die Ausführungen über Nachbarn und Ermittlungsbehörden im ersten Teil aufschlussreicher gemacht. Der zum Titel der Schlussbetrachtung erhobene Satz ,,Emotionen und Gewalt machen Geschichte(n)" mag ins gegenwärtige Bielefelder Forschungsprogramm passen, ist aber als theoretische Formulierung des Gebotenen nicht recht plausibel. Denn im Zentrum des Buches stehen weniger ,,Emotionen als Handlungsmotivationen und Erfahrungsweisen" (S. 455) als vielmehr Kommunikationsformen von der Auseinandersetzung unter Nachbarn zur ,,Kollektivaussprache" in der DDR, vom polizeilichen Verhör zum Gerichtsurteil, vom Zeitungsartikel zum Leserbrief, in welchen Gewalt teils voyeuristisch beschrieben, teils angedroht oder phantasiert, überwiegend aber auf Distanz gehalten wird. Diese Kritikpunkte ändern jedoch das positive Gesamturteil nicht. Die Lektüre lohnt sich auf jeden Fall, wegen der zahlreichen aufschlussreichen Einzelbefunde, vor allem aber der gelungenen, reflektierten Verbindung von Mikro-, Wissenschafts- und Mediengeschichte.
Über die Analyse von Serienmorden und ihrer Thematisierung hinaus sollte das Hauptergebnis der Arbeit alle interessieren, die sich mit der Kulturgeschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert beschäftigen. Kerstin Brückweh arbeitet die lange Dauer einer konservativen Personalisierung des Serienmordes heraus, da letztlich in allen vier Fällen die bedrohliche soziale Nähe des Täters zu seinem Umfeld durch Externalisierung verleugnet, bei aller Pathologisierung auf seiner Zurechnungsfähigkeit beharrt sowie eine Vergeltungslogik angewandt und auch weithin befürwortet wurde. Das steht in einem gewissen Widerspruch zur Identifikation von Liberalisierung und Individualisierung und auch zur teleologischen Überbetonung reformerischer Impulse, wie sie in der Geschichtsschreibung zu Westdeutschland beliebt sind. Statt dessen betont Brückweh treffend deren ,,relative Kurzlebigkeit" (S. 252) im Strafrecht, weil liberale Reformen zwar im zweiten Prozess gegen Bartsch zum Tragen kamen, aber auch auf entschiedenen Widerstand stießen und seit geraumer Zeit wieder zurückgenommen worden sind. Nicht nur in Westdeutschland, sondern auch etwa in Großbritannien wurde um 1970 im Wechselspiel von Boulevardpresse und ,,Volk" ein konservativer Populismus revitalisiert, der thematisch um Gewaltkriminalität kreiste und sich als ausgesprochen langlebig erwiesen hat. Inwieweit dies auch zur ,,Westernisierung" gehört, würde man bei Gelegenheit gerne von den Zeithistorikern erklärt bekommen. Insofern hat Kerstin Brückweh ein wichtiges Buch nicht nur zur Kommunikation von Kriminalität, sondern auch zur deutschen Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts geschrieben, das zu vergleichenden Überlegungen anregt.
Moritz Föllmer, Leeds