ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Michael Hascher, Politikberatung durch Experten. Das Beispiel der deutschen Verkehrspolitik im 19. und 20. Jahrhundert (Beiträge zur Historischen Verkehrsforschung, Bd. 8), Campus Verlag, Frankfurt/New York 2006, 362 S., brosch., 39,90 €.

Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesverkehrsministerium steht im Mittelpunkt der Untersuchung von Michael Hascher zur wissenschaftlichen Politikberatung in der deutschen Verkehrspolitik. Der Technikhistoriker macht sich in seiner Dissertation auf die Suche nach den Wurzeln, den historisch wechselhaften Organisationsformen und vor allem nach dem tatsächlichen Einfluss dieses Expertengremiums, das seit 1949 permanent besteht und sich aus Wissenschaftlern unterschiedlicher Disziplinen zusammensetzt. Das Feld der Politikberatung eignet sich besonders, um die Verflechtungen zwischen Politik und Wissenschaftslandschaft im 20. Jahrhundert zu beobachten, und gerade der Bereich des Verkehrs bietet in diesem Kontext ein lohnendes Untersuchungsfeld. Denn die Institutionalisierung der Verkehrswissenschaft an deutschen Universitäten und Forschungsinstituten vollzog sich zeitgleich mit der Installierung von Expertengremien. So können Wechselwirkungen zwischen Verkehrspolitik und Verkehrswissenschaft besonders gut ins Blickfeld geraten - vorausgesetzt, man lässt dieses zu. Denn Hascher bezieht sich zwar in seinem Analysemodell auf Weingarts Untersuchung zum Verhältnis von Wissenschaft und Politik, doch die Rekursivität dieser Beziehung, die Weingart selbst stark betont, findet in Haschers Untersuchung keinen Eingang. Diese methodische Schwierigkeit zieht sich durch das gesamte Buch, das so zu einer Ereignisgeschichte der Verkehrspolitik und Verkehrswissenschaft wird.

Hascher beginnt seine Untersuchung mit dem Streit zwischen Eisenbahn- und Kanalbefürwortern im 19. Jahrhundert. Durch private Initiativen wurden die ersten Eisenbahngesellschaften gegründet, die in Konkurrenz zu den Wasserstraßen traten. Sie wurden unterstützt von Ingenieuren und Staatswissenschaftlern, die im Rahmen ,,ungebetener Politikberatung" (S. 36) die Eisenbahn als neues Verkehrsmittel forcierten. Hand in Hand mit der Einführung der Eisenbahnen ging die Institutionalisierung der Technischen Hochschulen. Absolventen wurden in den neu entstehenden Staatsbahnen dringend benötigt, zudem waren die Lehrenden auch häufig Eisenbahnpraktiker, die nur zeitweise in die Hochschule wechselten. Diese Eisenbahner waren es auch, so Hascher, die in erster Linie das Gemeinwirtschaftlichkeitsprinzip des neuen Verkehrsmittels propagierten. Die Vorstellung, die Eisenbahnen hätten einen ,,Auftrag zum Wohl der Allgemeinheit zu erfüllen" (S. 71), zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Verkehrswissenschaft bis weit ins 20. Jahrhundert hinein. Die Abkehr vom freihändlerischen Liberalismus und die Hinwendung zum Interventionsstaat ist mit dieser Lehrmeinung durchaus zu parallelisieren, so Hascher, und geht einher mit einer stärkeren Betonung wissenschaftlicher Expertise.

Der erste Schritt der Institutionalisierung einer Verkehrswissenschaft ging von der Nationalökonomie aus. Im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts entstand eine ganze Reihe von Fachzeitschriften, die zum einen die Diskussion innerhalb der Wissenschaft, zum anderen aber auch immer den Austausch mit Praktikern forcierten. Die Gründung des Kölner Instituts für Verkehrswissenschaft in den Jahren 1920-1922 stellt einen ersten Zwischenerfolg dieser Entwicklung dar. Doch der technische Teil der Verkehrswissenschaft harrte weiter seiner Institutionalisierung, bis dann schließlich im Jahr 1929 an der Technischen Hochschule Stuttgart das Verkehrswissenschaftliche Institut für Luftfahrt gegründet wurde. Bis allerdings von einer gemeinsamen Verkehrswissenschaft gesprochen werden konnte, dauerte es noch länger. Während des Zweiten Weltkrieges führten die Protagonisten der beiden Richtungen, Anton-Felix Napp-Zinn und Carl Pirath, in der Zeitschrift für Verkehrswissenschaft eine Debatte über die gemeinsame Sprache und Begriffsbildung innerhalb der Disziplin. Was der Inhalt dieser Debatte war, erfährt der Leser leider nicht.

Parallel zur Institutionalisierungsgeschichte der Verkehrswissenschaft berichtet Hascher über die Verkehrspolitik und die Einbeziehung der Verkehrsexperten in den politischen Prozess. Doch bleiben diese Aspekte merkwürdig unverbunden nebeneinander stehen - wohl auch bedingt dadurch, dass kaum über die Fragestellungen und Forschungsgegenstände in der Verkehrswissenschaft berichtet wird, so dass inhaltliche Verbindungslinien nicht gezogen werden können. Die Verbindung zwischen Politik und Wissenschaft scheint in Haschers Untersuchung auf den Bereich des ,,Ressourcenaustauschs" beschränkt zu bleiben. Je nach politischer Großwetterlage war die Lage günstig oder ungünstig für weitere Institutionalisierungsvorstöße - beispielsweise profitierte die Verkehrswissenschaft offenbar während des Nationalsozialismus vom Fluss staatlicher Zuschüsse, die sie zum Disziplinausbau nutzte.

Für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg scheint die Geschichte der Verkehrswissenschaft nur noch eine sehr untergeordnete Rolle zu spielen. Hascher konzentriert sich vollends auf den Beirat beim Bundesverkehrsministerium und vollzieht anhand mehrerer Beispiele nach, welche formalen Wege die Politikberatung ging und welchen direkten Einfluss die Experten auf die Entscheidungen der Politik hatten. Hascher kommt zu dem Ergebnis, dass das Expertengremium viel weniger direkt auf die Entscheidungen der Politik einwirken konnte als erwartet - nicht immer seien die Gutachten (deren Inhalt Hascher in den meisten Fällen leider verschweigt) zur Entscheidungsgrundlage der Verkehrspolitiker gemacht worden. Die wissenschaftliche Expertise war, so Hascher, nur eine Ressource unter vielen anderen, und die Akteurskonstellationen deutlich weniger übersichtlich, als auf den ersten Blick zu erwarten gewesen sei. So kommt Hascher zu dem (etwas dünnen) Ergebnis, die Verkehrswissenschaft sei zwar von Anfang an stark mit der Politik verkoppelt gewesen, doch habe sich das nicht immer in politischen Entscheidungen niederschlagen können. Insbesondere mit dem Ministerwechsel von Seebohm zu Leber habe der Einfluss des Beirats zu schwinden begonnen. Dies begründet Hascher vor allem mit persönlichen Präferenzen des jeweiligen Ministers: Seebohm, der sich immer zuerst an den Beirat gewendet habe; Leber, der den Beirat eher gemieden und sich ,eigene' Experten herangeholt habe. Diese Deutung Haschers über ist nur ein Beispiel dafür, wie strukturelle Veränderungen erst gar nicht in den Blick geraten, weil sie ausschließlich im Kontext der Verkehrspolitik betrachtet werden.

Insgesamt bietet die Untersuchung Haschers eine materialreiche Zusammenschau der deutschen Verkehrswissenschaft und -politik seit ihrem Beginn im 19. Jahrhundert und ist somit für Verkehrshistoriker von unschätzbarem Wert. Wer jedoch eher auf der Suche nach einer Analyse ist, die die Verflechtungen von Politik und Wissenschaft über das konkrete Feld des Verkehrs hinaus in den Blick nimmt, wird bei Hascher kaum fündig. Denn die Verkehrspolitik fungiert in der Untersuchung nicht als Beispiel für weiter reichende Aspekte einer Verwissenschaftlichung von Politik oder ihrer Relevanz in gesellschaftlichen Prozessen, sondern als alleiniger Gegenstand.

Anette Schlimm, Oldenburg


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