ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Michael Kotulla, Deutsches Verfassungsrecht 1806-1918. Eine Dokumentensammlung nebst Einführungen, Springer-Verlag, Berlin/Heidelberg, 2006ff., geb.
Bd. 1: Gesamtdeutschland, Anhaltische Staaten und Baden, 2006, LI, 2008 S.
Bd. 2: Bayern, 2007, XL, 2038 S.

Seit Michael Kotulla kann man die deutsche Verfassungsgeschichte des 19. Jahrhunderts in Kilogramm bemessen: Gesamtdeutschland und Anhaltische Staaten bis Bayern, zusammen 4,870 kg. Der Beginn eines monumentalen Werks, das, seine Vollendung einmal unterstellt, auch wenn Kotulla sich in der Zahl der noch zu erwartenden Bände nicht festlegen will (,,des auf eine Reihe weiterer Bände angelegten Gesamtwerkes", II, vii), leicht auf 10.000 Seiten anwachsen könnte. Das dürfte selbst einen Huber übertreffen, der es mit seinen sieben Bänden Darstellung und drei Bänden Dokumenten ,,nur" auf ca. 9.000 Seiten (jeweils in der 2. Auflage) brachte und sich dabei nicht auf das 19. Jahrhundert beschränkt hatte. Zumindest in der deutschen Verfassungsgeschichtsschreibung seit Waitz gibt es nichts Vergleichbares. Allein damit ist die einzigartige Leistung von Kotulla unterstrichen, und man kann ihm nur die Kraft und Ausdauer wünschen, dieses Gesamtwerk zu Ende zu führen.

Streng genommen besteht Kotullas ,,Verfassungsrecht" aus zwei Teilen, den historischen Einführungen und den Verfassungsdokumenten. Allein die historischen Einführungen sind im Grunde jeweils ein Buch für sich von rund 400 Seiten pro Band (I, S. 11-452, II, S. 1-390). Diese Einführungen sind hilfreich und wichtig, stellen sie die nachfolgend abgedruckten Dokumente doch in ihren historischen Kontext, was ihrem Verständnis ohne Frage förderlich ist. Doch scheint hier auch eine Problematik zu liegen, betrachtet man diese historischen Einführungen genauer. Auf die gesamtdeutsche Verfassungsgeschichte des 19. Jahrhunderts entfallen 300 Seiten, auf die der Anhaltischen Staaten 50 Seiten, auf die Badens 80 Seiten und die Bayerns 390 Seiten. Selbst wenn wir zugrunde legen, dass weder Verfassungsbegriff noch Verfassungsverständnis noch Zahl der einschlägigen Dokumente vergleichbar, geschweige denn identisch sind, erscheint diese Gewichtung im Sinne der inneren Balance des Gesamtwerkes nicht unproblematisch, zumal sie sich im Dokumententeil noch zu potenzieren scheint: Gesamtdeutschland 870 Seiten, Anhaltische Staaten 230 Seiten, Baden 440 Seiten, Bayern 1.650 Seiten.

Es ist das Anliegen Kotullas, gemäß seinem Verfassungsbegriff ,,die in einem Staat herrschende rechtliche Grundordnung" wiederzugeben (I, S. 4). Aufgabe der historischen Einführungen ist es daher, ,,an den einschlägigen Verfassungsdokumenten orientierte (verfassungs-) rechtliche, zeitlich wie territorial übergreifende entwicklungsgeschichtliche Darstellungen" (I, S. 9) zu liefern. Er geht also nicht von den gemäß seinem Verfassungsbegriff ausgewählten Dokumenten aus und stellt diese in ihren historischen Kontext, sondern liefert in wechselnder Distanz zu diesen Verfassungsdokumenten letztlich davon unabhängige ,,entwicklungsgeschichtliche Darstellungen", in denen diese Verfassungsdokumente ebenso wie weitere Gesetze und Dokumente auftauchen, die aber nicht im Folgenden abgedruckt werden. Wenn aber Kotulla, wie ihm durchaus bewusst, weder mit seinem Verfassungsbegriff in seinen Einführungen auskommt, noch ,,eine erschöpfende Darstellung aller verfassungshistorisch bedeutsamen Aspekte", noch eine ,,Zusammenstellung der einschlägigen Literatur" (I, S. 9) liefern will noch kann, muss die Frage erlaubt sein, ob die hier entwickelte und dokumentierte Breite jeweils sachgerecht ist.

Will man diese Frage bejahen, kann man einen Text abdrucken wie das bayerische ,,Gesetz, die durch die Einführung des Strafgesetzbuches für das Deutsche Reich bedingten Abänderungen der Militär-Strafgesetze betreffend, vom 28. April 1872" (II, S. 1816-1817) und das allein aufgrund seines Art. 142, ,,der einzigen Vorschrift des Gesetzes mit Verfassungsrang" (II, S. 345). Dieser Verfassungsrang äußert sich aber nicht in einer konkreten Verfassungsänderung oder -ergänzung, sondern lediglich in dem Hinweis, wie der Landtag mit seinen Ausschüssen zur Umsetzung des Gesetzes gemäß der bayerischen Verfassung vorzugehen habe. Insofern mag man sagen, dass sich in diesem Art. 142 die in Bayern 1872 ,,herrschende rechtliche Grundordnung" widerspiegele, aber wird damit tatsächlich Verfassungsrecht dokumentiert? Oder folgt Kotulla hier einem Verfassungsverständnis, das er anderen Teilen seines Werkes in vergleichbarer Breite nicht zugrunde gelegt hat?

Es mag müßig erscheinen, über den Einzelfall zu streiten, auch wenn das gewählte Beispiel, gerade in dem bayerischen Teil, alles andere als ein Einzelfall ist. So ist das Gesetz, die Ausübung der Jagd betreffend, vom 30. März 1850 sicher zu Recht nicht abgedruckt, wohl aber das ,,Gesetz, die Aufhebung des Jagdrechtes auf fremdem Grund und Boden in den Regierungsbezirken diesseits des Rheins betreffend, vom 4. Juni 1848" (II, S. 1735-1736), obwohl verfassungsmäßig für dieses Gesetz das gleiche gilt wie für das von 1872 gewählte Beispiel und obwohl das Gesetz von 1850 das zwei Jahre zuvor ergangene Gesetz wegen einer Reihe von Regelungen, die sich als unzulänglich erwiesen hatten, ersetzte (vgl. II, S. 311). Auch ohne weitere Beispiele anzuführen erscheint es offensichtlich, dass die ,,herrschende rechtliche Grundordnung" so einfach nicht zu definieren ist. Warum entspricht dieser die ,,Verordnung. Die künftige Verfassung und Verwaltung der Gemeinden im Königreich betreffend, vom 17. Mai 1818" (II, S. 917-942), obwohl ,,diese Verordnung niemals in den Rang eines Verfassungsgesetzes gehoben wurde" (II, S. 246) und auch in ihrem Text keinerlei Bezug zur bayerischen Verfassung hergestellt wird? Für den Verfassungshistoriker wäre es hingegen ungleich naheliegender gewesen, den gescheiterten Verfassungsentwurf von 1815 (vgl. II, S. 127-128) abzudrucken, erlaubt er doch Einblicke, in was zu einem bestimmten Zeitpunkt verfassungsrechtlich durchsetzbar war und was nicht. Hingegen hat Kotulla nur Verfassungsdokumente aufgenommen, die ,,irgendwann in Rechtskraft erwachsen sind" (I, S. 6), eine Regel, von der er natürlich mit der Paulskirche, der Erfurter Union und dem ,,Vierkönigbündnis" selbst wieder abrücken musste (I, S. 1033-1076, 1079-1112). Entsprechend sind auch die ersten offiziellen badischen Verfassungsentwürfe von 1808 und 1809 (vgl. I, S. 390-391) im Dokumententeil unberücksichtigt geblieben.

Fragt man unter diesen Gesichtspunkten nach dem Charakter des Kotullaschen ,,Verfassungsrechts", so wird deutlich, und hier liegt ein grundlegender Unterschied zu Huber, dass es das Werk eines Juristen ist, der akribisch das normativ gesetzte materielle Recht sammelt und interpretiert. Hier liegt seine große Stärke und hier folgt man ihm in aller Regel gern, zumeist auch in seinen Auseinandersetzungen mit der einschlägigen Literatur. Dort, wo aber eher der Verfassungshistoriker gefragt ist, begibt er sich auf ein Terrain, auf dem er sich weit weniger zu Hause fühlt und wo er sich stattdessen an eine formaljuristische Textauslegung klammert. So ist seine zusammenfassende Würdigung der bayerischen Verfassung von 1808 (,,Grundlage für die ungleich bedeutsamere Verfassungsurkunde von 1818", II, 70) schlicht dürftig. Schließlich war sie die erste in Deutschland geschriebene und in Kraft getretene Verfassung, wenn man einmal die westphälische Verfassung als nicht in Deutschland geschriebene ansieht. Wenn er dann bezüglich der fehlenden Gewaltentrennung in der Verfassung von 1818 schreibt: ,,Ein solches Verständnis der staatsrechtlichen wie staatspolitischen Rollenverteilung im Innern war dem Frühkonstitutionalismus völlig fremd" (II, S. 230), dann wird hier konservative Restauration mit Frühkonstitutionalismus einfach gleichgesetzt, ohne die gegenläufigen Strömungen der Zeit auch nur zur Kenntnis zu nehmen, wie ohnehin die Bedeutung der Charte constitutionnelle von 1814 als restauratives Verfassungsmodell für das Deutschland dieser Epoche an keiner Stelle wirklich herausgearbeitet wird.

Der Verfassungshistoriker mag in diesen und weiteren Punkten Defizite in der Interpretation erkennen. Nur Kopfschütteln kann jedoch hervorrufen, wenn man zur deutschen Reichsverfassung von 1871 liest, dass diese ,,keineswegs antiquiert" (I, S. 251) gewesen sei, sondern, wie Kotulla im Anschluss an Klaus Stern schreibt, ,,als letzter vollendeter Ausdruck des Konstitutionalismus" anzusehen sei (I, S. 252). Selbst wenn man das so sehen will, müsste man zumindest einmal sagen, was man unter ,,deutschen Konstitutionalismus" versteht und in welchem Beziehung dieser zum ,,modernen Konstitutionalismus" steht, wie er sich in der amerikanischen und Französischen Revolution herausgebildet hat und von dem jener sich bewusst rigoros abgrenzen will. Will man sich nicht dem Vorwurf einer längst nicht mehr zeitgemäßen, national verengten Perspektive aussetzen, wird man sich darüber hinaus auch dem Verdikt von Lloyd George stellen müssen, der die Bismarck'sche Verfassung als eine ,,military autocratic constitution" und als ,,a dangerous anachronism" charakterisiert hatte. Das war natürlich 1918 aus der Perspektive des Ersten Weltkriegs gesprochen, aber es war inhaltlich genau das gleiche, was Georg Gottfried Gervinus bereits 1871 geäußert hatte. Das mag man nicht als Maßstab gelten lassen wollen, aber wenn man die Reichsverfassung von 1871 so glorifiziert, wie Kotulla das tut und nicht die Eigentümlichkeiten der deutschen Verfassungsentwicklung des 19. Jahrhunderts deutlich herausstreicht, wird man sich schon die Frage nach den eigenen Kriterien gefallen lassen müssen.

Man mag zu Recht darauf hinweisen, dass der Kern dieses monumentalen Werkes nicht in seinen Einführungen und Interpretationen, sondern in seiner Dokumentensammlung liegt. Hierin ist in der Tat sein einzigartiger Wert begründet und für diese wird es zukünftig primär benutzt werden. Im Wesentlichen handelt es sich um eine systematische Auswertung und Zusammenstellung aus den jeweiligen Gesetzblättern des Deutschen Bundes bzw. Reiches und denen der Einzelstaaten. Dabei wird Deutschland in den Grenzen des Deutschen Bundes von 1815-1866 definiert, also unter Einschluss von Österreich, Luxemburg und Liechtenstein. Abweichend davon wird allerdings ab 1871 das ,,Reichsland Elsaß-Lothringen" ebenfalls berücksichtigt. Die Texte werden originalgetreu wiedergegeben. Hingegen werden zumal längere Texte, wie das oben angeführte Beispiel von 1872 deutlich macht, deren wie auch immer gearteter Verfassungsbezug nur marginal ist, lediglich entsprechend gekürzt und nicht im vollen Wortlaut abgedruckt. Das mag angesichts des Gesamtumfanges des Werkes verständlich sein, schränkt in diesen Fällen jedoch die Benutzbarkeit ein. Doch davon unberührt handelt es sich um ein Werk, das in keiner einschlägigen Bibliothek fehlen darf und für das man Michael Kotulla höchste Anerkennung und Dankbarkeit aussprechen wird.

Horst Dippel, Kassel


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©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE 15. Mai 2008