ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Hartmut Zwahr, Die erfrorenen Flügel der Schwalbe. DDR und ,,Prager Frühling". Tagebuch einer Krise 1968-1970 (Archiv für Sozialgeschichte; Beih. 25), Verlag J.H.W. Dietz Nachf., Bonn 2007, 434 S., geb., 36,00 €.

Diese Publikation ist aus mehreren Gründen bemerkenswert: Sie ist vor allem eine Quelle für die Forschung zur Sozial- und Hochschulgeschichte der DDR. Sie dokumentiert zeitnah die Ereignisse, bringt Auszüge aus den damaligen Medien und zugleich Kommentare des Tagebuch schreibenden Historikers Hartmut Zwahr und Anderer. Sie ist aber auch ein sprachhistorisch interessantes Zeugnis für die innere Selbstzerstörung von Intellektuellen in der DDR, insbesondere in Leipzig. Das Tagebuch schildert dabei die Suche nach Auswegen, die Menschen unter den vielfältigen Pressionen der SED und der von ihr abhängigen Institutionen suchten und teilweise auch fanden. Es ist kein Dokument des Kampfes gegen die Partei.

Dreißig Jahre vor den großen Demonstrationen in Leipzig und der damit eingeleiteten Selbstbefreiung wäre wohl niemand auf die Idee gekommen, diese Stadt als ,,Helden-Stadt" zu bezeichnen. Und auch der Autor, damals 32 Jahre alt, Assistent am Institut für Geschichte und bekennender Sozialist, der ,seine' Leipziger kannte, hätte diesen vollmundigen Ausdruck aus den 1990er Jahren für die Intellektuellen der ausgehenden 1960er Jahre nicht in den Mund genommen. Er legt Zeugnis ab, wie stark die innere und äußere Selbstzerstörung (1) bereits Ende der 1960er Jahre bei der mittleren und älteren Generation fortgeschritten, wie sehr die jüngere Generation heimlich auf den Erfolg der tschechoslowakischen Reformer um Dubček und Smrkovský hofften, und wie scharf die SED darauf innerhalb der DDR darauf reagierte. Der Arbeiteraufstand des 17. Juni 1953 und der Ungarn-Aufstand von 1956 waren noch präsent, bei den Älteren auch noch das Verhängnis von NS-Regime und Zweitem Weltkrieg.

Die Eintragungen in seinem Tagebuch, das Hartmut Zwahr vorsichtshalber stets im defekten Küchenofen versteckt hielt, beginnen am 11. März 1968 und enden am 20. April 1970. Im Fernen Osten tobte der hässliche Vietnam-Krieg, in Europa begann und endete das Experiment eines Sozialismus mit demokratischem Antlitz in der Tschechoslowakei, als die Truppen des Warschauer Paktes - darunter die der DDR - dieses Land besetzten. In der DDR wurden sowohl der Volksentscheid über eine Änderung der Verfassung, die zur ,,sozialistischen Menschengemeinschaft" (S. 27) führen sollte, als auch anschließend die 3. Hochschulreform durchgeführt. Christa Wolfs ,,Nachdenken über Christa T." wurde vorübergehend aus den Buchhandlungen verbannt. Und zwischendurch, am 28. Mai 1968, fiel die intakt gebliebene, gotische Dominikaner-Kirche in Leipzig dem sozialistischen Städteplaner Walter Ulbricht und dessen Leipziger Parteisekretär Paul Fröhlich (,,[...] regiert in seiner Provinz wie ein römischer Statthalter", S. 273) zum Opfer. Als Ergebnis der Hochschulreform wurden auch die Leipziger Historiker im Rahmen der neuen Sektion Geschichtswissenschaft an die Kandare des Instituts für Marxismus-Leninismus genommen. Das Tagebuch lässt die inneren Zusammenhänge dieser Ereignisse sichtbar werden.

Neben den Ereignissen in der ČSSR stehen Vorbereitung und Durchführung der 3. Hochschulreform in der DDR im Mittelpunkt. Bisherige Fachschulen wurden zu Technischen Universitäten. Hierarchische, ,effektivere' Strukturen und starke Einkommensunterschiede bei den Mitgliedern des Lehrkörpers wurden eingeführt Auf die Habilitation als Voraussetzung für die Facultas Docendi wurde verzichtet, stattdessen der ideologisch bedingte ,,Aufstieg der Mittelmäßigen" (S. 154) ermöglicht. Die Verschärfung der SED-Propaganda und die Heraushebung des Instituts für Marxismus-Leninismus als oberster Leiteinrichtung für die neuen Sektionen der Universität sorgten für die ,,totale Erfassung des Menschen" (S. 301) nicht nur in Leipzig. Die Arbeiter (vgl. S. 287) gerieten ebenfalls immer stärker unter ideologischen Druck, der auch bei ihnen die Ursache für die Nichterfüllung der Pläne war. ,,Die ideologische Offensive ist so umfassend, dass nur der Rückzug in die verkrümmten Gänge und Schlupfwinkel bleibt. So machen es Zehntausende, die abends das Fernsehen andrehen und sich abreagieren. Ich habe das nicht billigen können und sage es auch jetzt, dorther können wir die Alternative nicht nehmen", notierte Zwahr am 17. April 1969 (S. 263).

Am 28. Oktober 1968 hatte er schon geschrieben: ,,Der Mensch des entwickelten Systems, der nur immer schluckt, lädt zu Hause ab. Die Frauen protestieren dagegen. Was dort gesagt werden müsste, wo das Unrecht geschieht, wird nicht gesagt, weil nur gesagt wird, was der Vorgabe von oben entspricht." (S. 174/175). Der Autor schilderte aber auch das häufig nichtkonforme Verhalten der jüngeren Generation, zu der u.a. die beiden Söhne von Robert Havemann gehörten, die Ende Oktober 1968 wegen staatsfeindlicher Hetze zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden (S. 178). Und eine Umfrage unter 1.000 Studenten der Universität Leipzig ergab im September 1969, dass insbesondere bei den Naturwissenschaftlern das ideologische Bewusstsein keineswegs schon den Wünschen der SED-Leitung entsprach: 90 Prozent standen zwar positiv zur DDR und 80 Prozent waren sogar stolz auf sie, aber nur 50 Prozent betrachteten Marxismus-Leninismus als wichtig. Nur 51 Prozent gaben sich als überzeugte Atheisten aus, und 18 Prozent bekannten sich ausdrücklich zum Christentum (S. 285).

Aus welchen Quellen kamen nun die Tagebucheintragungen Zwahrs? Es waren die tagtäglichen Eindrücke aus der damaligen Karl-Marx-Universität Leipzig, die Gespräche mit befreundeten Zeitgenossen wie z.B. mit dem Logiker und Frege-Forscher Lothar Kreiser (2), die unterschiedlichen Informationen von Deutschland-Funk (West) und Radio DDR (Ost), von Radio Prag und zeitweise existierenden Geheimsendern in der CSSR, die Lektüre insbesondere des ,,Neuen Deutschlands", der ,,Leipziger Volkszeitung" und der Prager Zeitung ,,Rudé Právo". Zwahr und seine Frau, die sich als Redakteurin bei VEB Bibliographisches Institut Leipzig mit den wechselnden Sprachregelungen bei den Biografien führender DDR-Politiker abmühte, lernten Tschechisch. Die Sprachkenntnisse erst machten es möglich, dass die oft minutiösen Schilderungen der Augusttage des Jahres 1968 in dem Tagebuch (S. 101ff.) so spannungsreich gelingen konnten. Die eigene Sprache des Autors hebt sich gelegentlich ab von der nüchternen Schilderung des Alltags oder der wörtlichen Wiedergabe von Zitaten, wenn sie feuilletonistische oder gar poetische Qualitäten gewinnt. So kommentierte Zwahr den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in der Nacht vom 20. auf den 21. August 1968: "Den Schwalben sind die Flügel erfroren im Anhauch der Eisgrauen, stalinistischer Kälte. Der [tschechische] Sender schweigt." (S. 111). Ganz anders dagegen die Sprache der Zeitgenossen in der DDR. In ihr spiegelt sich sowohl die Arroganz der Macht als auch der Druck, die Anpassung, der Opportunismus (mit der demaskierenden Frage: ,,Und wie ist Deine wirkliche Meinung?"; S. 157) und die Unwahrheit (in dem Vorwurf der ,,Konterrevolution" in der ČSSR durch das ,,Neue Deutschland" und die ,,Leipziger Volkszeitung"). Zwahr notierte am 26. August 1968: ,,Beim Lesen [der Leipziger Volkszeitung] bricht mir der Schweiß aus. Ungeheuerlich werden die Menschen belogen." (S. 134). Die zahlreich kursierenden Witze dienten als Ventil und zeugten von dem Wissen der Menschen um den missratenen DDR-Sozialismus. Ein Beispiel: ,,Ein Lehrer fragt seine Schüler, was wir im Sozialismus denn aus anderen Gesellschaftsordnungen übernommen hätten. Nach der Pause meldet sich ein Schüler und sagt, aus der Urgesellschaft die Produktionsinstrumente, aus der Sklaverei die Behandlung der Menschen, aus dem Feudalismus die vielen kleinen Fürschten, aus dem Kapitalismus die Widersprüche." (S. 80). Hartmut Zwahr war sich damals - wie Victor Klemperer (3) rund 20 Jahre zuvor - der verquasten, oft verschlimmbessernden offiziellen Sprache bewusst, in der entlarvend von ,,wegretuschieren", ,,vorbeidefilieren" und ,,vorausprogrammieren" (S. 302) die Rede war und - anders als bei der Kohleversorgung Ende 1969 (vgl. S. 304) - kein Mangel an Phrasen herrschte. (4) Leipziger Künstler wie der Bildhauer Wolfgang Mattheuer oder die Fotografin Evelyn Richter entlarvten die Hohlheiten in ihren Werken. (5)

Die Herausgabe des Tagebuchs von Hartmut Zwahr war und ist eine gute Tat für die DDR-Forschung. Sie ist es auch für den aufmerksamen Beobachter jener späten 1960er-Jahre in der DDR, auch weil darin neben den großen Staats-(und Partei-)aktionen eine Fülle täglicher kleiner Ereignisse und Beobachtungen festgehalten wurden. Dafür ist dem Autor, der eben schreibender Zeitgenosse-Historiker war, ebenso zu danken wie für seinen Mut, sich selbst nicht zu schonen. Er hat seine Aufzeichnungen nicht nachträglich zensiert, wohl aber hat er im Text genutzte Abkürzungen dankenswerter Weise aufgelöst und diese ebenso wie andere Hinzufügungen (Auszüge aus den Medien, Übersetzungen und Briefstellen) kursiv gesetzt.

Bei allem Lob, das dieses Werk verdient, möchte der Rezensent einen Mangel doch erwähnen: Die umfangreichen, für das Verständnis des heutigen Lesers unerlässlichen Anmerkungen wurden leider an den Schluss des Tagebuchs (922 Anmerkungen auf S. 345-408) gesetzt, so dass man permanent blättern muss. Das Quellen- und Literaturverzeichnis, das nur die Zeit 1968-1970, nicht aber die gesamte DDR-Zeit betrifft, eine Auflistung der Abkürzungen und Siglen sowie ein Register der Personen der Zeit- und Kulturgeschichte runden dieses Tagebuch zu einem wichtigen Werk der deutschen Zeit- und Kulturgeschichte ab.

Ekkehard Henschke, Oxford

Fußnoten:


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