Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Jan Eckel/Thomas Etzemüller (Hrsg.), Neue Zugänge zur Geschichte der Geschichtswissenschaft, Wallstein Verlag, Göttingen 2007, 312 S., kart., 32,00 €.
Die Geschichte der Geschichtswissenschaft hat über die Funktion der Selbstverortung hinaus in den letzten 15 Jahren eine wesentliche Erweiterung erfahren. Wissenschaftsgeschichte ist heute mehr als die Frage, woher wir wissenschaftlich kommen, sondern hat sich allmählich zu einem eigenständigen Teil der Geschichtswissenschaft etabliert. Die Geschichte der Geschichtswissenschaft wird zur ,,Sonde", so die Herausgeber in der Einleitung, ,,mit der vielfältige kulturgeschichtliche Zusammenhänge ausgeleuchtet werden" können (S. 21). Die Begrenzung auf die Betrachtung von Werk oder Biografie kann bei der Frage nach der Wechselbeziehung von Wissenschaft und Politik bzw. Gesellschaft nicht mehr genügen, und so greift die Wissenschaftsgeschichte auf Überlegungen von Soziologen, Kulturwissenschaftlern und Politikwissenschaftlern zurück. Der jüngst erschienene Band macht es sich zur Aufgabe, diese für die Fachgeschichte neuen theoretischen und methodischen Zugänge vorzustellen. Die neun Beiträge folgen dabei dem Muster, zunächst das jeweilige Konzept vorzustellen, um es im Anschluss anhand eines konkreten Beispiels der Geschichtshistoriografie anzuwenden. Hierbei werden Chancen und Grenzen des jeweiligen Ansatzes diskutiert.
Im ersten Beitrag fragt Thomas Etzemüller nach der Entstehung von historischer Erkenntnis. Hierfür verbindet er zunächst Luhmanns systemtheoretischen Ansatz mit Glaserfelds ,,radikalem Konstruktivismus". Hierbei kommt er zu dem Ergebnis, dass Geschichte nicht Realität widerspiegelt, sondern allein das Produkt von Beobachtung und Kommunikation sein kann. Diese wiederum seien sozial bedingt. Durch die Verknüpfung des von ihm entwickelten Theorieansatzes mit den praxeologischen wissenschaftssoziologischen Ansätzen von Ludwik Fleck, Michel Foucault und Pierre Bourdieu diskutiert Etzemüller überzeugend den Zusammenhang von sozialer Disposition und historischer Erkenntnis. Leider begrenzt sich die empirische Anwendung seines Modells auf die Darstellung von Teilaspekten: Auf sein Beispiel, die frühe Sozialgeschichte, wendet er allein Flecks Denkstil und Bourdieus Habitus-Konzept an.
In den folgenden zwei Beiträgen stehen die Produzenten wissenschaftlicher Erkenntnis und die Wechselwirkung von Strukturen und individuellen Entwicklungen im Zentrum. Olaf Blaschke und Lutz Raphael diskutieren in ihrem Aufsatz die Anwendbarkeit von Bourdieus Feldkonzept auf die Geschichte der Geschichtswissenschaft. Nach einer gut strukturierten und aussagekräftigen Einführung in das Konzept, in der auch die wesentlichen Begriffe erläutert werden, übertragen sie die Bedingungen des ,,sozialen Feldes" auf den Prozess der Etablierung der französischen Annales-Schule und der Sozialgeschichte der 1970er-Jahre.
Die Trierer Historikerin Gabriele Lingelbach diskutiert ihrerseits den - in meinen Augen - für die Wissenschaftsgeschichte insgesamt sehr fruchtbaren Ansatz der Institutionengeschichte. Hierbei geht es weniger um die bereits mehrfach erfolgte Darstellung von Institutionen (Aufbau, Personal, Ausstattung, Leitungsstrukturen). Lingelbach plädiert vielmehr für einen weiteren Institutionenbegriff, der die Wechselbeziehung der gegebenen Struktur mit der ,,thematischen, methodischen und habituellen Standardisierung der geschichtswissenschaftlichen Tätigkeit" umfasst (S. 115). Dieses Verfahren ist anschlussfähig an Bourdieus Feld- und Flecks Denkstilkonzept, so dass hier ein integrierender Ansatz zur Verfügung steht, auf dessen empirische Anwendung mit Spannung gewartet werden kann.
Die Neuzeithistorikerin Susanne Rau beschreibt in ihrem Beitrag Geschichtsschreibung als Teil des kulturellen Gedächtnisses und damit als Teil jener Erinnerungskultur, die für den Zusammenhalt von Gesellschaften notwendig ist. Demzufolge ist Historiografie nicht zuletzt auch ein kulturelles Produkt, so dass für die Untersuchung ihrer Geschichte zunächst Produktion und Rezeption zu untersuchen sind, bevor sie selbst in den Fokus kommt.
Der sprachlich etwas spröde Beitrag von Angelika Epple fragt mit Blick auf die Geschichtshistoriografie nach dem Zusammenhang von Geschlecht und kommunikativen Strategien. Unter Rückgriff auf Foucaults Diskursanalyse und Ric_urs Erzähltheorie entwickelt sie zwei idealtypische Erzählmuster, die die Geschichtsschreibung um 1800 bestimmten. Während sich das eine Muster als professionelle Erzählstrategie etablieren konnte (Bildungsgeschichte), galt das andere als dilettantisch und unwissenschaftlich (Empfindsame Geschichtsschreibung). Diese Unterscheidung verbindet Epple mit der Geschlechterfrage und konstatiert, dass die von ihr rekonstruierten Erzählmuster uns heute zwar Auskunft über die verschiedenen Erfahrungshorizonte ihrer Verfasser/innen geben, aber wenig über den Wahrheitsgehalt der Erzählungen an sich aussagen.
Die Diskussion um die Betrachtung historischer Texte als ,,Erzählungen" und ihre Analyse mittels literaturwissenschaftlicher Methoden setzte in Deutschland relativ spät ein. Bis heute gibt es - angeregt v.a. durch die Arbeiten des amerikanischen Literaturtheoretikers Hayden White - überwiegend theoretische Überlegungen zur Narrativität in der Geschichtswissenschaft. Aus diesem Grund entwickelt Jan Eckel in seinem Beitrag ein anwendungsorientiertes Textanalysemodell in drei Ebenen: Präsens des Erzählers, Zeitgestaltung, Plotstruktur. Im Anschluss wendet Eckel sein Drei-Ebenen-Modell auf die westdeutsche Geschichtsschreibung zur Weimarer Republik an. Anhand von drei zentralen Gesamtdarstellungen (K.D. Erdmann 1958, D. Peukert 1987 und H.A. Winkler 1993) weist er sich wiederholende Erzählmechanismen nach: Unter anderem wurden die Weimarer Jahre mit dem Wissen um Nationalsozialismus und Holocaust immer wieder von ihrem Scheitern ausgehend erzählt. Ein alternativer Plot, der etwa von kultureller Pluralität oder dem Abbau von Autorität in der Weimarer Republik handelt, konnte sich hingegen in diesen Arbeiten nicht durchsetzen.
Ausgehend von den intensiven Debatten der letzten Jahre plädiert Sebastian Conrad in seinem aufschlussreichen Beitrag für eine Verbindung von historischem Vergleich und Transfergeschichte. Zunächst dokumentiert er die zentrale Bedeutung des europäischen Einflusses auf die japanische Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert. In einem zweiten Schritt fordert er eine darüber hinausgehende Einbettung dieser Erkenntnisse in eine globale Perspektive, um nicht einer ,,bilateralen Logik verhaftet zu bleiben und die Welt auszublenden, innerhalb derer sich die jeweiligen Entwicklungen vollzogen haben" (S. 254).
Vom ,,Zetern der Gelehrten" (S. 256) handelt der aufschlussreiche Beitrag von Klaus Große Kracht. Große Kracht unterscheidet darin zwischen wissenschaftsinternen Auseinandersetzungen und Debatten, die Wissenschaft und Öffentlichkeit in gleichem Maße tangieren und für deren Verlauf die Massenmedien eine wesentliche Rolle spielen. Am Beispiel der zunächst fachintern, dann öffentlich geführten Diskussion um Fritz Fischers ,,Griff nach der Weltmacht" in den 1960er-Jahren zeichnet Große Kracht die Auseinandersetzungen nach, die von einer fachlichen Kontroverse zu einer moralisch und emotional aufgeladenen Debatte führten. Hierbei wandten die Diskutierenden verschiedene Strategien an: Es wurde versucht, den Gegner auszugrenzen, seine fachliche und moralische Kompetenz in Frage zu stellen. Mit Blick auf den Platzierungssinn der Historiker im wissenschaftlichen Feld, aber auch angesichts der auf Rechtfertigung der eigenen gesellschaftlichen Funktion angelegten Argumentationen in der Öffentlichkeit kommt dem Thema Kritik eine bedeutende Rolle für die Konstituierung des Fachs zu.
Mit dem Beitrag von Jens Nordalm kommt der Sammelband zu einem bemerkenswerten Abschluss. In pointierter, provokativer Manier kritisiert er den aktuellen ,,Methodenüberschwang" (S. 285) in der deutschen Geschichtswissenschaft - nicht zuletzt mit Referenz auf den vorliegenden Band. Das Primat einer bestimmten Methode verenge den Blick und sei so für die Geschichtswissenschaft unpassend. Es müsse vielmehr und nach wie vor darum gehen, ,,forschend zu verstehen" (Droysen). Unter Rückgriff auf den Historismus, auf Droysen und Dilthey fordert Nordalm ,,gegenstandssensiblen Perspektivenpluralismus" (S. 289) statt methodischer und theoretischer Schematismen. Doch statt diesen durchaus legitimen Standpunkt an seinem empirischen Beispiel zu veranschaulichen, führt er den - ohnehin in der Geschichtswissenschaft überstrapazierten - Generationsbegriff ein und verweist am Beispiel der ,,Rankerenaissance um 1900" auf dessen unzureichendes Erklärungspotenzial. Nebenbei bemerkt sind die Vielzahl der von Nordalm in Anführungszeichen gesetzten Begriffe und die gereizte Kritik an Ute Daniels Generationenbegriff gute Beispiele für die von Große Kracht als Positionierung beschriebene Argumentationsweise von Historikern.
Die Intention der Herausgeber, eine Bestandsaufnahme der aktuell diskutierten methodischen und theoretischen Modelle vorzulegen, ist in beachtlicher Weise gelungen; die wesentlichen Konzeptionen werden vorgestellt und ihre Anwendbarkeit an konkreten Beispielen überprüft. Zudem bietet der Band vor dem Hintergrund, dass die Sensibilisierung für die hier vorgestellten Überlegungen nicht in jedem Geschichtsstudium eine Selbstverständlichkeit ist, eine wichtige Möglichkeit, sich auf knappe Weise einer Konzeption zu nähern und sie gegen andere abzuwägen. Mit Blick auf die Benutzerfreundlichkeit für wenig Vorgebildete weisen die Beiträge qualitative Unterschiede auf. In der Mehrzahl der Beiträge (so von Etzemüller, Blaschke und Raphael sowie Lingelbach) wird in klar strukturierter Form die Methode vorgestellt, die wichtigsten Begriffe geklärt, Vor- und Nachteile sowie die Verknüpfbarkeit mit anderen Ansätzen diskutiert. In der daran anschließenden Beispielbetrachtung kann der Leser/die Leserin mit diesem Wissen die Sicht auf den konkreten Gegenstand nachvollziehen. Anderen Beiträgen gelingt diese Trennung von Theorie und Empirie weniger gut, was das Verständnis erschwert und den Erkenntnisgewinn schmälert. Insgesamt füllt der Band jedoch die im Vorwort konstatierte Lücke auf diesem Gebiet in anregender Art und Weise - der Vorwurf, einer bestimmten Konzeption das Wort zu reden und den Blick zu verengen, kann den Herausgebern jedenfalls nicht gemacht werden.
Anna Lux, Leipzig