ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Adelheid von Saldern (Hrsg.), Stadt und Kommunikation in bundesrepublikanischen Umbruchszeiten (Beiträge zur Kommunikationsgeschichte, Bd.17), Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2006, 393 S., 40 s/w Abb., kart., 49,00 €.

,,Wer etwas sehen will, wer Abwechselung und Leben sucht, wer diskutieren will, findet sich hier ein. [...] Man sieht die schönsten Mädchen, Trachtler, Rucksacktouristen, alle Arten von Originalen, Menschen, die ihr Anliegen, ob politisch oder religiös, der Öffentlichkeit unterbreiten, Diskussionsgruppen, junge Menschen, die sich langhaarig als Gammler geben und viele alte Leute." (S.118) Voller Enthusiasmus feierte 1972 das Baureferat der Stadt München ihre wenige Jahre zuvor entstandene Fußgängerzone und lieferte damit ein anschauliches Beispiel für den Versuch, Stadtentwicklungspolitik in Zeiten tief greifender gesellschaftlicher Veränderungen der bundesdeutschen Öffentlichkeit zu vermitteln. Das von Jan Logemann in seinem Aufsatz über westdeutsche Fußgängerzonen präsentierte Zitat ist nur eine Variante für die Vielfalt an Aspekten, die sich bei der Frage nach dem Zusammenhang von ,,Stadt" und ,,Kommunikation" in ,,Umbruchszeiten" eröffnen. Mit den in dem vorliegenden Band versammelten Beiträgen einer 2004 veranstalteten Tagung soll, so die Herausgeberin, ein Einblick in diese Vielfalt und der weiten Forschungslandschaft zugleich eine Struktur gegeben werden.

Im Mittelpunkt einer an sozialer Kommunikation orientierten Stadtforschung soll, so Adelheid von Saldern in ihrer Einführung, die Frage nach den kommunikativen Praktiken stehen, die im städtischen Kontext eine große Bedeutung besitzen. Es gehe darum ,,die Zeit- und Raumcharakteristika der sozial eingebundenen Kommunikation herauszuarbeiten" (S. 15). Auf diese Weise geraten Formen der interpersonalen und gruppenspezifischen Kommunikation - etwa in den seit den 1970er Jahren entstehenden Fußgängerzonen - ebenso in den Blick wie der jeweilige, zeit- und raumgebundene Grad an Öffentlichkeit und Privatheit. Die zahlreichen, nicht selten widersprüchlichen Befunde, die sich bei der Analyse kommunikativer Praktiken in westdeutschen Städten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ergeben, bestätigen, so von Saldern, das Bild von der Stadt als einem ,,Spannungsfeld von Kohärenz und Entgrenzung". Damit unterstreicht von Saldern die Bedeutung des Themas für den aktuellen Stadtdiskurs - die in den Gesellschaftswissenschaften allzu häufig beschworenen Prozesse der Auflösung des Städtischen sind eben nicht die einzigen Tendenzen, die die Entwicklung der Städte ausmachen.

Im Anschluss an von Salderns Einführung liefern 16 weitere Beiträge ein buntes Tableau an Forschungsansätzen und -ergebnissen zu Fragen der stadträumlichen Kommunikation. In großer, gelegentlich zu großer thematischer und methodischer Breite - vertreten sind u.a. die Disziplinen Zeitgeschichte, Ethnologie, Medienwissenschaften, Soziologie, Geographie und Stadtplanung - werden mal überblicksartig, mal fallbezogen Form und Entwicklung städtischer Kommunikation vorgestellt. So untersucht Walter Siebel die Bedeutung der Shopping Mall, einem ,,neuen Typus von städtischem Ort", der durch Einschränkung von öffentlichem Raum und durch Vertiefung sozialer Ungleichheit eine Gefahr für die historische, bürgerliche Stadt darstelle. Martina Heßler widmet sich der weitgehend gescheiterten ,,Produktion" von Urbanität in den bei München gelegenen, am Reißbrett geplanten Wissenschaftsorten Garching und Martinsried. Der Frage nach der Beziehung von Stadt und Umland geht Meik Woyke am Beispiel Hamburgs in den drei Nachkriegsjahrzehnten nach und schildert dabei insbesondere die schwierige Situation der in ihrer Mobilität eingeschränkten ,,Pendler-Ehefrauen" in den neu errichteten Eigenheimsiedlungen weit draußen vor der Stadt. Lu Seegers beschreibt die Kommunikationspolitik Hannovers der frühen 1970er Jahre und die damit verbundenen, geradezu verzweifelt wirkenden Versuche der Stadtverwaltung, der Stadt ein im wahrsten Sinne des Wortes ,,farbiges" Image zu geben - 1969 empfahl etwa eine Werbeagentur, die Baustellen der Stadt ,,mit einer positiven, Lust erweckenden, lustigen Uniform" (S. 185) zu versehen und sie in der Farbe Orange anzustreichen. Georg Wagner-Kyora untersucht am Beispiel des Dortmunder Rathauses und der Alten Waage in Braunschweig die kommunale Identitätskonstruktion durch den postmodernen ,,Wiederaufbau" der 1970er und 1980er Jahre und rückt damit einen von der historischen Forschung bislang vernachlässigten ,,starken Seitenstrang populärer Geschichts-Bildung durch einen aktiven Historismus" (S. 210) ins Rampenlicht. Hervorzuheben ist schließlich auch Detlef Siegfrieds Beitrag über die Rolle der - meist nur als städtisches Phänomen wahrgenommenen - Jugendkultur der 1970er Jahre für Stadt und Provinz. Seiner Ansicht nach hätten die Alternativkultur und ihre neu entwickelte Gegenöffentlichkeit dazu beigetragen, ,,den Traditionalismus des Landes aufzubrechen, (auch wenn) ihr eigentlicher Fokus die Stadt" (S. 365) geblieben sei.

Der Sammelband bietet somit einen Einblick in die Vielfalt von Themen, Fragestellungen und zum Teil bislang wenig bearbeiteten Forschungsfeldern. Wünschenswert wäre allerdings eine Definition der im Titel angekündigten ,,Umbruchszeiten" gewesen. Zwar stehen die in der Tat von großen Umbrüchen geprägten 1970er Jahre im Mittelpunkt vieler Beiträge, doch beschäftigt sich ein nicht geringer Teil auch mit den 1950er und 1960er Jahre oder beschränkt sich wie Walter Siebels Aufsatz über die Shopping Mall oder Jörg Hüttermanns Beitrag über ein Minarettbauvorhaben in Halle/Westfalen auf Beispiele aus der Gegenwart. Eine stärkere Konzentration wäre hier wohl hilfreich gewesen, denn so erscheinen alle Zeiten auf irgendeine Weise als ,,Umbruchszeiten". Insgesamt liefert der Sammelband zahlreiche interessante Ansätze und Ergebnisse und unterstreicht in seinen vielen Facetten nicht zuletzt die Relevanz von stadthistorischer Forschung für die Gesellschaftswissenschaften überhaupt.

Philipp Springer, Berlin


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