ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Rüdiger Fleiter, Stadtverwaltung im Dritten Reich. Verfolgungspolitik auf kommunaler Ebene am Beispiel Hannovers, Verlag Hahnsche Buchhandlung, Hannover 2006, 390 S., 56 schw.-w. Abb. + 4 schw.-w. Tab, geb., 14,80 €.

Rüdiger Fleiters Studie fügt sich in eine Reihe neuerer Arbeiten ein, die die Bedeutung der Kommunalverwaltung für die nationalsozialistische Herrschafts- und Verfolgungspraxis nachdrücklich unterstreichen. Die Quellengrundlage, auf die sich der Autor stützten kann, ist wie in den meisten Städten für die NS-Zeit wegen Kriegsverlusten und gezielter Aktenvernichtung zwar lückenhaft, reicht aber doch für ein gründlich recherchiertes und überzeugendes Gesamtergebnis aus. Anders als viele Studien zu Kommunen im Nationalsozialismus untersucht Fleiter für eine Stadtverwaltung nicht ausgewählte Felder, auf denen sich die Kommunen an NS-Verbrechen beteiligt haben, sondern sucht systematisch die überwiegende Mehrzahl (ausgenommen ist lediglich die Verfolgung der sogenannten ,,Asozialen") bisher bekannter Verstrickungen auf. Dabei geht er der Frage nach, ob das konkrete Verwaltungshandeln der bislang als eher konservativ und wenig nazifiziert geltenden Stadtverwaltung Hannovers den Verfolgungsdruck minderte oder sogar noch verstärkte. Im Einzelnen analysiert Fleiter die Durchführung des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, die Mitwirkung städtischer Stellen an der sogenannte ,,Erb- und Rassenpflege", die Diskriminierung, Entrechtung, Verfolgung und schließlich Deportation der Juden in Hannover mit Hilfe der Stadtverwaltung, die Verfolgung der Sinti sowie schließlich die Ausbeutung von Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen.

Leitstern der Analyse ist das von Fraenkel entwickelten Kategorienpaar ,,Normenstaat" und ,,Maßnahmenstaat". Fleiter versteht darunter ausdrücklich keinen Gegensatz zwischen Verwaltungsbürokratie und Parteiapparat, sondern ein dynamisches Konzept. Er weist eine Trennlinie, die zwischen der Exekution von formal gültigen, korrekt niedergelegten Rechtsnormen und ohne solche Grundlage auskommenden Willkürakten unterscheidet, als ,,autoritären Rechtspositivismus" (S. 20) zurück. Stattdessen definiert Fleiter den Normenstaat als den Bereich, im dem das Recht im Einklang mit dem Gleichheitsgrundsatz der Weimarer Verfassung stand. Alles andere ist für ihn Maßnahmenstaat. Mit dieser Entscheidung vermeidet der Autor, NS-Verfolgungen, die sich auf in der Zeit der NS-Diktatur erlassene Rechtsnormen stützten, ,,rechtens" zu nennen und kann sie somit als das charakterisieren, was sie waren, nämlich als Unrecht. Allerdings führt das im Zusammenspiel mit seinem Untersuchungsgegenstand zu einem tautologischen Forschungsdesign. Das NS-Regime basierte auf der Fundamentalsetzung, dass die Menschen ungleich seien und unterschiedlichen Wert hätten. Auf dieser Hierarchisierung basierte die Verfolgung, Diskriminierung und massenhafte Ermordung nicht nur der Juden, sondern auch von Behinderten, ,,Asozialen" und Zwangsarbeitern. Wenn man den ,,Normenstaat" so eng fasst wie Fleiter, kommt zwangsläufig heraus, dass alle NS-Verfolgungen als ,,maßnahmenstaatlich" zu charakterisieren sind, ganz gleich, ob es dafür eine ,,rechtstechnische" Grundlage (wie Fleiter das Vorhandensein von Gesetzen als Grundlage der Verfolgung nennt) gab oder nicht.

Obwohl der analytische Ansatz vorhersehbare Ergebnisse produziert, kann Fleiter mit seiner Gesamtschau offenlegen, mit welcher Konsequenz auch eine vermeintlich wenig nazifizierte Kommunalverwaltung sich dem Programm der NS-,,Volksgemeinschaft" verschrieb. Der konservative Oberbürgermeister Arthur Menge blieb bis 1937 im Amt und gab den Parteistellen immer wieder zu Klagen wegen mangelnder Kooperationsbereitschaft Anlass; daran änderte auch sein Nachfolger Henricus Haltenhoff wenig. Auf allen Feldern, die Fleiter untersucht, fördert er zutage, dass die Hannoveraner Stadtverwaltung ungeachtet dessen systematisch, gewissenhaft und loyal sämtliche Spielarten der NS-Verfolgung nicht nur ausführte, sondern oftmals sogar noch verstärkte. Fleiter konstatiert das ,,bemerkenswert hohe Maß an Freiwilligkeit" (S. 158), mit dem die Stadtverwaltung mehrfach ihre Ermessensspielräume nutzte, um den Verfolgungsdruck zu steigern. Insbesondere wenn sich ideologische Motive und städtische Interessen miteinander in Einklang bringen ließen - wie etwa im Falle der ,,Arisierungen" oder bei der Verwertung von Mobiliar und Wohnraum der zunächst ghettoisierten und dann aus Hannover vertriebenen Juden -, arbeiteten die Beamten der Stadtverwaltung Hand in Hand mit Partei und anderen Behörden zusammen und trieben die Aktionen voran.

Fleiter führt zahlreiche Beispiele an, die illustrieren, wie sinnvoll eine Unterscheidung zwischen Verfolgungsakten durch willkürlichen ,,Maßnahmen" und normativ geordneten Verfahren ist. Sie lassen sich mit Gewinn quer zu seinen Analysekategorien lesen. Das gilt etwa für Fälle, in denen von Zwangssterilisation Bedrohte erfolgreich an behördliche Berufungsinstanzen oder die Partei appellierten (S. 73-77). Wie sehr Gesetze und Verordnungen den Beamten ihre Beteiligung am NS-Unrecht erleichterte, verdeutlicht die Nachkriegsaussage einer Angestellten des städtischen Leihamts über die Zwangsabgabe von Silber zu unangemessen niedrigen Preisen: Sie äußerte ,,Verständnis" für die ,,Verbitterung der Juden" und rechtfertigte sich: ,,Aber vom Personal ist in jedem Falle korrekt verfahren" (S. 169) worden. Dem Personal widmet der Autor insgesamt elf Kurzporträts, die unterschiedliche Handlungsoptionen bzw. Haltungen verdeutlichen sollen. Gerade das konkrete Handeln des Personals bleibt jedoch etwas diffus, und die bloße Aufzählung von unterschiedlichen Optionen, sich als Beamter zum Nationalsozialismus zu verhalten, gibt keine Auskunft darüber, welcher Typus in der Stadtverwaltung von Hannover dominierte. Der Autor selbst bietet nur vage Einschätzungen an (S. 363).

Leider ist das Buch nicht frei von einem gewissen Übereifer, die Stadtverwaltung immer und überall an vorderster Front der NS-Verfolgung sehen zu wollen. An manchen Stellen erscheint die zuweilen schmale Quellenüberlieferung daher überinterpretiert. Eine weniger kleinteilige Gliederung hätte dem Lese- und Argumentationsfluss gut getan; über 140 Überschriften auf vier Ebenen zerstückeln den Text, sodass im Schnitt weniger als drei Seiten auf einen Sinnabschnitt entfallen. Diese Einschränkungen ändern gleichwohl nichts an der Überzeugungskraft des Gesamtbefunds sowie am Verdienst, erstmals die gesamte Beteiligung einer Stadtverwaltung an NS-Verfolgungspolitik dargelegt zu haben. Sein Ziel, Wolf Gruners These einer dynamisierenden Rolle der Kommunen bei der Judenverfolgung am lokalen Beispiel zu belegen, hat Fleiter allemal erreicht. Wenn sich der Leser von dem wenig erhellenden analytischen Ansatz des Autors löst, erfährt er auch einiges darüber, wie dies möglich war, obwohl nur eine Minderheit der handelnden Beamten und Angestellten überzeugte ideologische Parteigänger des Regimes waren.

Bernhard Gotto, München


DEKORATION

©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE 15. Mai 2008