ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Ralf Roth/Robert Beachy (Hrsg.), Who Ran the Cities? City Elites and Urban Power Structures in Europe and North America, 1750-1940 (Historical Urban Studies), Ashgate, Aldershot/Burlington 2007, 278 S., 27 Abb., 7 Tab., geb, £ 55,00.

Die hier verfolgte Frage nach der Rolle von ,,Eliten" im Zusammenhang städtischer Machtstrukturen greift gegenwärtige Fragen der ,,Governance"-Debatte auf und führt ältere Ansätze der Stadtgeschichte (hinsichtlich der Rekrutierung von Stadtverordneten und Bürgermeistern) sowie der deutschen Bürgertums- und der englischen Assoziationsforschung fort. Der Fokus wird in Richtung einer europäischen Perspektive erweitert und es werden nordamerikanische Fälle einbezogen. Zugleich soll der Band, so die Herausgeber, theoretisch reflektiert zu einer historischen Konkretisierung bisheriger soziologischer und sozialgeschichtlicher Ansätze der bislang stark in modellhaften Vorstellungen verhafteten Elitenforschung beitragen.

Die Herausgeber Ralf Roth und Robert Beachy blicken bereits auf ein höchst einschlägiges Oeuvre zurück, das auf die deutsche und europäische Sozial-, Stadt- und Kommunikationsgeschichte konzentriert ist. Diese Schwerpunkte zeichnen sich auch in ihrer Einleitung ab, in der die doppelte Frage nach Eliten und ,,distribution of political power in modern cities" entwickelt wird: War es automatisch so, dass die Stadteliten allein aufgrund ihres Reichtums zur Herrschaft gelangten, welche Rolle spielten Bildung und kulturelles Kapital? Wie weit wurde ihr Einfluss durch die Konkurrenz der Exponenten von Arbeiterbewegungen begrenzt, die sich Einfluss in den Leistungsverwaltungen zu verschaffen verstanden? Welche strategischen Allianzen und taktischen Konstellationen finden sich zwischen verschiedenen sozialen Klassen und Schichten der Stadtgesellschaft? Roth und Beachy betonen, dass ein Mindestmaß an definitorischer Schärfe, was ,,Eliten" sind, erreicht werden müsse. Den hauptsächlichen Kontext ihres Hauptgegenstandes sehen sie im Aufkommen der europäischen, urban geprägten Zivilgesellschaft und ihrer öffentlichen Sphäre. Damit könne man sich nicht mit der Analyse von (quantitativen) Indikatoren für Einfluss und Reichtum begnügen, sondern müsse die jeweiligen sozialen und kommunikativen Netze einbeziehen, aber auch die Formierungsgeschichte der ,,urban masses".

Ralf Roth und Robert Beachy fassen die Hauptbotschaft ihres Sammelbandes selbst mit dem Argument zusammen, dass es ,,monolithische" Stadteliten nie gegeben habe. Tatsächlich erweisen sich, wie zunächst die ersten vier britischen Beispiele zeigen (Emi Konishi über die Hafenstadt King´s Lynn im 18. Jahrhundert, Louise Miskell zu Swansea 1780-1850, James Moore und Richard Rodger zur Kommunalpolitik, Stadtreform, sozialen Basis von Selbstverwaltungskörperschaften und zur Rolle von wissenschaftlicher Expertise vor allem am Beispiel von Edinburgh im 19. Jahrhundert; Denise McHugh über die Mittelstadt Lincoln mit klaren Linien der Stadtentwicklung, welche die dort weit zu definierenden Eliten verfolgten), deutliche Unterschiede hinsichtlich ihrer Komposition und der Kooperation zwischen konkurrierenden Gruppen. Stets muss man eine letztlich doch gemeinsame ,,public sphere" mitdenken, wo diese Gruppen auftraten. Konstituierende Faktoren der Elitenbildung und die Art und Weise, wie sie Stadtpolitik betrieben, waren demnach jeweilige regionale Verflechtungen, legislative Einflüsse, die Entstehung politischer Parteien, Mobilisierung aufgrund sich aufweitender Kommunikation und das wachsende Gewicht von Industrialisierung. Die Unterschiede zwischen britischen und deutschen urbanen Machtstrukturen waren geringer als man früher annahm, deutsche Großstädte gewannen stärkere Autonomie gegenüber dem Staat (Michael Schäfer über Edinburgh und Leipzig 1890-1930 zur Kontinuität älterer Eliten über 1919 hinweg - mit starkem Fokus auf Stadtpolitik und Wohnungsbau). Des Weiteren ergaben sich sowohl Fälle wie Lincoln, wo sich die Komposition der Stadteliten langsam, aber doch deutlich wandelte, wie Trondheim (sehr kurz dazu Steinar Supphellen), wo die ,,alte" Elite, die sich stark aus ausländischen Großkaufleuten rekrutierte, trotz allgemeinen sozialen Wandels das Sagen behielt. Zu Deutschland im 18. und 19. Jahrhundert betont Roth sowohl die starke Rolle stabiler Selbstverwaltungsinstitutionen, während das jeweilige politische Klima stark differiert habe. Den exkludierenden Herrschaftsmodellen wie in Augsburg und in Dortmund steht das liberale Frankfurt gegenüber, wo der Einfluss des Bildungsbürgertums beträchtlich wurde. Der Autor verdeutlicht, dass man ohne Berücksichtigung der urbanen Netzwerke und damit des Vereinswesens nicht auskommt und knüpft damit an das große Frankfurter Bürgertumsprojekt an. Árpád Toth über Pest Mitte des 19. Jahrhunderts unterstreicht, wie genau diese bürgerliche Vereinsbildung das bisherige oligarchische Gefüge nach 1830 wenn nicht aufsprengte, so doch variierte und eine breitere politische Partizipationsbasis bewirkte. Dobrinka Parusheva thematisiert die Situation in Südosteuropa im 19. Jahrhundert, die durch einen geringen Urbanisierungsgrad gekennzeichnet war und wo ,,patriarchalische", auch religiös determinierte Herrschaftsverhältnisse langsam durch ,,westlich" und ,,rational" orientierte Kreise einer ,,Bourgeoisie" eingeschränkt worden seien.

Sven Beckerts Beitrag, ebenfalls zur ,,Bourgeoisie" in New York, ist der erste der Artikel zu den USA, wo die Stadtgeschichte insgesamt durch eine im Vergleich zu Europa schärfere Konfrontation von ,,Massenbewegungen" und Herrschaftselite (als ,,Bourgeoisie" qualifiziert) gekennzeichnet gewesen sei. Beckert zeigt, wie die Wohlhabenden mit ihren politischen ,,Maschinen" erst repressiv, dann mit etwas stärker integrativen Konzepten auf die neue historische Situation reagierten. Marcus Gräser konzentriert sich in seinem Aufsatz über politische Kultur der Mittelschichten in Chicago 1880-1940 auf Fragen der verzögerten Stadtreform und arbeitet heraus, wie die ,,progressiven" Reformer sehr ambivalent auf die Herausforderungen einer Massendemokratie reagierten; hier hätte ein Bezug zu einem einschlägigen älteren Forschungsbeitrag von Friedrich Lenger weitergeholfen. Brian Young zu Montreal und Quebec bietet ein Kontrastprogramm zu den amerikanischen Fallstudien, indem hier der Einfluss traditionell begüterter Gruppen und die relative Immobilität ,,patrizischer" Verhältnisse deutlich betont werden. Young sieht das Assoziationswesen als exklusives Milieu der Stadtelite und nicht als emanzipatorisches Vehikel für breite Mittelschichten.

Neben dem Schwerpunkt Großbritannien sind im Band demnach die USA, Südost, Zentral-, und Nordeuropa in beeindruckender Vielfalt urbaner Strukturen vertreten, Spanien, Italien und Frankreich fehlen allerdings. Der Frage nach konkreten Organisationsformen von Arbeiter-Gegeneliten und nach der Rolle von Frauen für die Konstituierung schichtenübergreifender öffentlicher Sphären wird kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Erfreulich ist, dass einige Artikel sowie die Einleitung eine komparative Perspektive einnehmen. Die Beiträge insgesamt verfolgen ungewöhnlich eindeutig die gemeinsame Forschungsperspektive. Eindrucksvoll weist der Sammelband nach, dass Elitenrekrutierung und -zusammensetzung nur in Form von Konstellationen und in einem jeweiligen urbanen, soziokulturellen Kontext zu erklären ist sowie ,,allgemeine" Faktoren der Geschichte recht unterschiedlich zu Buche schlagen. Damit ist, mit einem optimistischen Unterton, nicht nur das Bild einheitlicher, oder gar der Dominanz verknöcherter traditioneller Grund- und Hausbesitzer revidiert, obwohl man über die Rolle des Landbesitzes (dominierend in Swansea, nicht aber in Lincoln) gerne mehr gewusst hätte und manche Beiträge wiederum von einer anhaltend dominierenden ,,Bourgeoisie" ausgehen. Die Professionalität der einzelnen Artikel und das Argumentationsniveau des Bandes sind beträchtlich. Die Orientierung an expliziten Erklärungsmodellen und die gute Ausstattung mit Abbildungen sind ebenfalls sehr positiv hervorzuheben.

Clemens Zimmermann, Saarbrücken


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