ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Karl Acham/Knut Wolfgang Nörr/Bertram Schefold (Hrsg.), Der Gestaltungsanspruch der Wissenschaft. Aufbruch und Ernüchterung in den Rechts-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften auf dem Weg von den 1960er zu den 1980er Jahren (Aus den Arbeitskreisen "Methoden der Geisteswissenschaften" der Fritz-Thyssen-Stiftung), Franz Steiner Verlag, Tübingen 2006, 747 S., kart., 98 €.

Mit diesem dritten Sammelband zur Geschichte der Rechts-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften in den 1960er- bis 1980er-Jahren wird ein umfangreiches Publikationsprojekt abgeschlossen, das sich zuvor dem Zeitraum von 1900 bis 1920 bzw. den 1920er bis 50er Jahren zugewandt hatte. Die Beiträge zu diesem Band gehen auf zwei von der Fritz Thyssen Stiftung geförderte Tagungen in den Jahren 2003 und 2004 zurück.

Die gemeinsame wissenschaftsgeschichtliche Betrachtung dieser Disziplinen wird von den Herausgebern mit ihrer Verwurzelung »in der Denkweise der deutschen geisteswissenschaftlichen Tradition des Historismus und der Hermeneutik« (S. 12) begründet. In den Darlegungen werden unterschiedliche Perspektiven zur Analyse der Wissenschaftsentwicklung gewählt: So geht es um die Verhältnisse von Zeitgeist und Wissenschaft, um Gegenstand und Methoden, um die Selbstbesinnung der Disziplinen, um den Umgang mit neue zeitgeschichtlichen Herausforderungen und schließlich um das Menschenbild und die damit verknüpften ethischen Vorstellungen. Zu jedem Gliederungspunkt finden sich Beiträge von Vertretern (!) der beteiligten drei Disziplinen. Dabei wird jeder Beitrag aus der Perspektive der jeweils anderen Disziplinen kommentiert.

Wenn im ersten Teil die Spuren des Zeitgeistes in den verschiedenen Wissenschaften rekonstruiert werden, so stellt sich die Lage in den Wissenschaften recht unterschiedlich dar: Michael Bock beschreibt am Beispiele der Kriminalwissenschaften die weitreichenden Einflüsse des soziologisierten Zeitgeistes. Richard Hauser konstatiert für die Sozialpolitik bzw. für den Verein für Socialpolitik, dass die wissenschaftliche Arbeit zwar zeitweise eingestellt werden musste, aber keine Paradigmenwechsel stattgefunden habe. Knut Wolfgang Nörr entzieht sich der Frage nach dem Zeitgeist, indem er sich auf die Analyse der Verwendung zentraler Begriffe (Marktwirtschaft, Wirtschaftsverfassung, Wirtschaftsrecht) zurückzieht.

Im zweiten Teil, indem es um die Gegenstände und Methoden der drei Disziplinen geht, analysiert Volker Kruse die Entwicklung des Programms der >empirischen Soziologie<. Er spricht vom Mythos - ein unglücklicher Begriff, wie der Kommentator zu Recht anmerkt - einer empirischen Soziologie, die als »ideologiefreie Wissenschaft«< Grundlagen für eine »allgemeine Theorie der Gesellschaft«< liefert; die aber zugleich auch als »demokratische Wissenschaft« »im Bunde mit der Sozialreform« als Moment der »sozialtechnischen Steuerung« (S. 152) fungiert. Zudem beschreibt er den weitreichenden Anspruch einiger Soziologen das »Erbe der Geisteswissenschaft anzutreten« (S. 156). Für die Vertreter dieses Programms der empirischen Soziologie waren die Erfahrungen der 1968er-Jahre eher traumatischer Art; es gelang jedoch eine Konsolidierung des empirischen Programms unter Verzicht auf seine >mythologischen< Gehalte.

Wie bereits in dem Kommentar Rückerts deutlich wird, wird die Rechtswissenschaft von dem bei Kruse beschriebenen neuen Mythos kaum tangiert. Eric Hilgendorf attestiert der Rechtswissenschaft als systematisch konservativer Disziplin »große Mühe, auf Entwicklungen in ihren Nahbardisziplinen zu reagieren und neue Ideen zu verarbeiten« (S. 227). Wie Hilgendorf am Beispiel der Renaissance der Rechtstheorie darlegt, haben hier am ehesten die methodologischen Debatten jener Zeit ihre Spuren hinterlassen. In den Wirtschaftswissenschaften waren es weniger die politisch kulturellen Einflüsse als die Erfahrung des beispiellosen Wirtschaftswachstums der 1950er- und 1960er-Jahre, die Probleme der >Entwicklungsländer< oder später die >Ölpreisschocks<, die den Wachstums- bzw. Entwicklungstheorien eine wichtige Stellung in der theoretischen und empirischen Wirtschaftsforschung verschafften.

In dem mit »Selbstbesinnung der Disziplinen« überschriebenen Teil setzt sich Pietro Morandi sehr differenziert mit der Entwicklung der Soziologie in der Schweiz auseinander; er interessiert sich in Abgrenzung von einer dogmengeschichtlichen Perspektive für die »Faktoren der Fremdbestimmung« (S. 259), die sich in der disziplinären Entwicklung abzeichnen. Es wird deutlich wie die Sozialwissenschaften im Kontext ganz unterschiedlicher politischer Projekte funktionalisiert wurden; es sei nicht gelungen, sie »dem Einfluss des Politischen nachhaltig zu entziehen« (S. 261). Die soziologische Perspektive wird durch einen Beitrag von Günter C. Behrmann vertieft, der den Aufstieg der Sozialwissenschaften im Kontext der Bildungsexpansion analysiert. Insbesondere die Ausweitung und Verwissenschaftlichung der Lehrerausbildung - und nicht die in der Fachgeschichtsschreibung hervorgehobenen Diplom und Magisterstudiengänge - lieferten die entscheidenden Beiträge zur Expansion der Erziehungs- und Politikwissenschaften bzw. der Soziologie.

Für die Wirtschaftswissenschaften beschreibt Jürgen Komphardt die Entwicklung des Keynesianismus, dessen verschiedene Varianten in der Wirtschaftspolitik der 1960er-Jahre eine große Bedeutung hatten. Der »Aufbruch zur gesamtwirtschaftlichen Steuerung« endete jedoch mit einer Ernüchterung. An die Stelle einer Globalsteuerung der Nachfrage traten eher Konzepte, die sich der Verbesserung der Angebotsbedingungen zuwandten; erst am Ende des hier betrachteten Zeitraums finden sich Indizien für ein »Ende der Talfahrt« (S. 325).

Für die Rechtswissenschaften verbindet Dian Schefold den zeitgeschichtlichen Wandel mit dem Übergang von der Grundrechtsinterpretation zur Verfassungstheorie. Diese Analysen werden von Richard Novak im folgenden Teil am österreichischen Beispiel weitergeführt.

Im vierten Teil geht es wiederum um die zeitgeschichtlichen Einflüsse, wie sie z.B. im Kontext der neuen sozialen Bewegungen, insbesondere der Umweltbewegung, zu beobachten sind. Sie haben, wie von Gunther Tichy für die Soziologie beschrieben, zu Wandlungen im gesellschaftspolitischen Zielkatalog geführt; auch in der Entstehung der Umweltökonomie finden sich diese Einflüsse wieder, wie bei Bertram Schefold dargestellt.

Im letzten Teil (Menschenbild und Ethik) analysiert Clemens Albrecht das Verhältnis der Psychoanalyse bzw. Psychotherapie zur Soziologie. Im wirtschaftswissenschaftlichen Beitrag geht es um die Frage, wie diese Disziplin auf die Herausforderungen durch die neue politische Ökonomie und auf die Wirtschaftsethik reagiert hat. Beiden Herausforderungen hat die Disziplin, wie Hermann Sautter zeigt, »deutliche Erkenntnisgewinne zu verdanken« (S. 627). Joachim Rückert verfolgt für die Rechtswissenschaft die Geschichte des >Sozialstaatsprinzips<. Die Darstellung verblüfft, wie Hauser in seinem Kommentar treffend anmerkt, durch die harte Grenzziehung zur Sozialpolitik und Sozialphilosophie.

Wie die sehr unterschiedlichen Beiträge zeigen, können die Vertreter der Fachdisziplinen durchaus wichtige wissenschaftsgeschichtliche Erträge liefern; umgekehrt werden an diesem Band jedoch auch die Grenzen einer solchen Fachgeschichte aus >eigener Kraft< deutlich. Die Darstellungen tendieren eher zu einer binnenwissenschaftlichen Dogmengeschichte, als dass sie, wie die Beiträge von Morandi und Behrmann, die gesellschaftlichen und die institutionellen Kontexte betrachten oder auch die Frage nach der Verwendung des so produzierten wissenschaftlichen Wissens stellen. Das mittlerweile akkumulierte wissenschaftsgeschichtliche Handwerkszeug wird kaum genutzt (z.B. methodologische und konstruktivistische Reflexionen, diskursanalytische Perspektiven).

Ein weiteres Problem stellt der recht kurze Beobachtungshorizont dar; das wird an den besonderen Erträgen jener Beiträge deutlich, die sich über diese Begrenzungen hinwegsetzen.

Gegenüber den früheren Tagungen, wo noch für die 1920er-Jahre festgestellt werden konnte, dass es »keine klaren Grenzen zwischen den Fächern Jurisprudenz, Wirtschaftswissenschaften und Soziologie« (213) gegeben habe, hat man es nun »mit unterschiedlichen Wissenschaftskulturen und wenig interdisziplinärer Kommunikation« (ebd.) zu tun. Diese Schwierigkeiten der Kommunikation offenbaren sich auch in dem Tagungsband: Das durchaus sinnvolle Instrument der Kommentierung der Tagungsbeiträge liefert weder im Sinne der Kritik noch einer perspektivischen Erweiterung einen wirklichen Gewinn.

Dies alles führt dazu, dass in diesem Tagungsband viele wichtige Beiträge zur Geschichte der jeweiligen Disziplinen versammelt sind; die gemeinsame Darbietung dieser Beiträge bietet aber angesichts der Differenzen zwischen den Wissenschaftskulturen nur noch einen geringen Mehrwert.

Christoph Weischer, Münster


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©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE 14. April 2008