ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Friederike Föcking, Fürsorge im Wirtschaftsboom. Die Entstehung des Bundessozialhilfegesetzes von 1961 (Studien zur Zeitgeschichte, Bd. 73), Oldenbourg Wissenschaftsverlag, München 2007, VII+556 S., geb., 74,80 €.

Die Entstehung des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) von 1961, das mit seinem innovatorischen Gehalt (im Sinne sozialpolitischer Modernisierung) eines der bedeutendsten sozialpolitischen Reformwerke der Ära Adenauer darstellt, wurde bislang - im Gegensatz vor allem zur historischen Erforschung der Sozialversicherungsgesetzgebung dieser Epoche - nicht intensiv untersucht. Gegenstand der insbesondere geschichts- und politikwissenschaftlichen Forschung im Bereich der ,,Fürsorge" (der späteren ,,Sozialhilfe") waren allenfalls einzelne Themenfelder, etwa die politische Festlegung von Kriterien für die Höhe von Fürsorgeleistungen, die Dimensionen von Armenpolitik und die Stellung der Wohlfahrtsverbände im modernen Wohlfahrtsstaat. Insofern schließt die vorliegende Untersuchung von Friederike Föcking eine seit langem bestehende und vielfach beklagte Lücke. Ziel dieser Forschungsarbeit ist es, die Genese des Bundessozialhilfegesetzes als zentraler Rechtsgrundlage der Fürsorge/Sozialhilfe in der Schnittmenge von verschiedenen Politikbereichen (z.B. Sozial-, Rechts-, Kommunal-, Wirtschafts-, Finanz- und Kirchenpolitik) und der aus ihnen erwachsenden Interessen zu untersuchen. Dabei bilden die Schwerpunkte des Forschungsanliegens der komplexe Gesetzgebungsprozess und das Wirken der in diesen Prozess involvierten Akteursgruppen.

Gegenstand des ersten Teils der Untersuchung sind die fürsorgepolitischen Weichen, die nach 1945 bis etwa Mitte der Fünfzigerjahre gestellt wurden und damit den späteren Weg der Fürsorgereform entscheidend bestimmten. Hier werden zunächst in einem einführenden Kapitel die Grundzüge des Fürsorgerechts in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus beschrieben, die in weiten Teilen bis zur Verabschiedung des BSHG die rechtlichen Rahmenbedingungen und die praktische Umsetzung der öffentlichen Fürsorge bestimmten. Daran schließt sich ein Kapitel an, das einen Überblick über die Entwicklung der Fürsorge in den drei Westzonen vom Kriegsende bis zur Gründung der Bundesrepublik bietet - einschließlich der quantitativen Bedeutung der kommunalen Fürsorge, die angesichts des damals weitgehenden Bedeutungsverlusts vor allem der Sozialversicherungssysteme ein bedeutendes Instrument der Hilfe zur Bewältigung von Massennotlagen geworden war. Danach erfahren die unterschiedlichen Dimensionen der Wiederherstellung des Fürsorgesystems eine vertiefte Würdigung, z.B. die Dimension der rechtlichen Angleichung des sich in den Westzonen zunächst uneinheitlich entwickelnden Fürsorgerechts. Einen weiteren Untersuchungsgegenstand bildet die Verortung der Fürsorge in der Sozialpolitik der Fünfzigerjahre, namentlich im Zusammenhang mit dem insbesondere durch den wirtschaftlichen Aufschwung begünstigten Ausbau der Sozialversicherungssysteme und des Systems der sozialen Entschädigung (also im Wesentlichen: der Kriegsopferversorgung), was zur Marginalisierung der Fürsorge als einem Hilfeinstitut für nicht anderweitig gesicherte Menschen in ausnahmsweisen Anpassungs- und Übergangsnöten führte. Ein weiteres Kapitel befasst sich mit dem Stellenwert der Fürsorge im Rahmen einer damals lebhaft diskutierten breit angelegten ,,Sozialreform". Schließlich wird zum Abschluss des ersten Teils der Untersuchung auch die in diesem Zeitabschnitt teilweise erfolgte Modernisierung des Fürsorgerechts thematisiert, z.B. die zunehmende Stärkung der Rechtsstellung von Fürsorgeempfängern durch die verwaltungsgerichtliche Betonung eines Rechtsanspruchs auf Fürsorge.

Gegenstand des zweiten Teils der Untersuchung ist die Fürsorgereform mit der Verabschiedung des BSHG. Den Kern dieses Teils bilden die intensive Darstellung und Analyse der Vorarbeiten zu dem Gesetz, die im Spätherbst 1955 begannen. Hier werden unter anderem die Form und die Akteure der Reformarbeiten ermittelt und analysiert sowie der Inhalt der Fürsorgereform umfassend und detailreich einer Feinanalyse unterzogen. Dies geschieht im Hinblick auf die Reformziele und nicht realisierte Reformalternativen, Reformschritte und ihre Gründe, Aufgaben der Fürsorge/Sozialhilfe, Zielgruppen und Hilfearten (Hilfe zum Lebensunterhalt und Hilfe in besonderen Lebenslagen wie Hilfe zur Pflege, Hilfe für ,,Gefährdete" und Eingliederungshilfe für Behinderte), Trägerschaft der Fürsorge/Sozialhilfe, Aufgabendurchführung und das besonders lebhaft umstrittene Problem der Finanzierung und Finanzierungszuständigkeit bei Sozialhilfeleistungen. Eine Bewertung der bis dahin erfolgten Arbeiten an der Reform schließt sich an diesen Abschnitt ebenso an wie die Untersuchung der weiteren Entwicklung der Reformarbeiten bis zum Regierungsentwurf des BSHG. Dabei handelt es sich um eine Entwicklung, die vor allem durch heftige politische Auseinandersetzungen um die Stellung der freien Wohlfahrtspflege und die Notwendigkeit einer Verbindung der Fürsorge- mit der Jugendhilfereform geprägt war. Eingehend und minutiös wird zudem der im (Bundestag und Bundesrat) stattfindende legislatorische Prozess erforscht. Dieser war vor allem durch die schon erwähnte Kontroverse um die Stellung der freien Wohlfahrtspflege beherrscht - eine Auseinandersetzung, die erst Jahre nach dem Inkrafttreten des BSHG mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Juli 1967 beendet wurde, und die im letzten Abschnitt des zweiten Teil der Untersuchung dargestellt wird. Das Schlusskapitel der Arbeit enthält eine zusammenfassende Betrachtung und Einschätzung der Befunde sowie einen kurzen Blick auf die weitere Entwicklung des BSHG bis zu seiner Ablösung durch die so genannte ,,Hartz IV"-Gesetzgebung einerseits und das Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (Sozialhilfe) andererseits.

Die gesamte Untersuchung stützt sich maßgeblich auf eine immense Fülle unveröffentlichter Quellen aus zahlreichen Archiven (vor allem aus dem Bundesarchiv Koblenz, aber unter anderem auch aus den Archiven der kommunalen Spitzenverbände, des Diakonischen Werks, der beiden großen Volksparteien sowie aus Landesarchiven und dem Parlamentsarchiv des Deutschen Bundestags). Was Friederike Föcking zu Tage gefördert und dem Untersuchungsgegenstand überzeugend zugeordnet hat, in seiner Bedeutung und Tragweite für den Reformprozess beleuchtet und bewertet, ist durchweg hervorragend. Dies alles wird durch Befunde aus gedruckten Quellen wie Zeitungen, aus der zeitgenössischen und der späteren Forschungsliteratur ergänzt, ausgeleuchtet, vertieft, interpretiert und kritisch reflektiert. Zudem ist der Band - was heute nicht immer selbstverständlich ist - handwerklich vorbildlich gemacht, z.B. im Hinblick auf das Quellen-, Literatur- und Personenregister.

Ein Gesamturteil fällt nicht schwer: Friederike Föcking hat ein Meisterstück der Sozialpolitikforschung am Beispiel der Genese eines Gesetzes aus dem Souterrain des Sozialstaats geleistet und damit entscheidend zum Verständnis von Transformationsprozessen im bundesdeutschen Wohlfahrtsstaat beigetragen.

Peter Trenk-Hinterberger, Bamberg


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