ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Die Chronik des Gettos Lodz/Litzmannstadt, 5 Bde., hrsg. v. Sascha Feuchert/Erwin Leibfried/Jörg Riecke (Schriftenreihe zur Łódźer Getto-Chronik), Wallstein Verlag, Göttingen 2007, 3.052 S., 168 z.T. farb. Abb., geb. (Schuber), 128,00 €.

Interdisziplinäre und internationale Kooperation gehören zu den Schlüsselbegriffen des Wissenschaftsdiskurses und prägen nicht ohne Redundanzen die heutige Lyrik zahlloser Projektanträge - was sich hinter diesen Floskeln jedoch Produktives verbergen kann, zeigt die nun vorliegende deutschsprachige Ausgabe der Chronik des Gettos Litzmannstadt. Die insgesamt fünf Bände und über 3.000 Seiten umfassende Edition ist das Ergebnis einer deutsch-polnischen Zusammenarbeit, die sich einschließlich der notwendigen Vorarbeiten auf über zehn Jahre erstreckte und institutionell von der Universität Gießen und dem Staatsarchiv Lodz getragen wurde. Das Resultat ist nicht nur von außerordentlichem historischen Wert - die Chronik stellt nicht weniger als die größte zusammenhängende Quelle zur Geschichte der Shoah dar - sondern setzt zugleich Maßstäbe für vergleichbare zukünftige Projekte.

Das Getto Litzmannstadt, errichtet in der von den deutschen Besatzern demonstrativ umbenannten polnischen Stadt Lodz, stellte das zweitgrößte Getto im besetzten Polen und das am längsten existierende im nationalsozialistischen Herrschaftsbereich dar. Abgeriegelt am 30. April 1940, lebten dort rund 200.000 Menschen. Im Sommer 1944 wurde das Getto endgültig aufgelöst, die zu diesem Zeitpunkt noch lebenden Bewohner wurden zum größten Teil nach Kulmhof sowie nach Auschwitz-Birkenau deportiert und dort ermordet. Zurück blieb ein ,Aufräumkommando', dessen Angehörige am 19. Januar die Befreiung durch die Rote Armee erleben durften. Von rund 200.000 Bewohnern überlebten auf dem Gebiet des Gettos Litzmannstadt nur etwa 850 Menschen.

Über vier Jahre dauerte somit die Zeit, in der die im Getto Eingeschlossenen täglich darum kämpfen mussten, unter extremen Bedingungen ihr Überleben zu sichern. Überleben meint hierbei zunächst das nackte physische Überleben - denn der Mangel in allen existentiellen Bereichen vom Essen bis zur medizinischen Versorgung war ein ständiger Begleiter im Gettoalltag. Die Chronik ist Zeugnis dieses zigfachen Lebens in der Zwangsgemeinschaft des Gettos und ein nicht zu überschätzender Fundus für die Alltagsgeschichte. Niedergeschrieben von den Mitarbeitern des Gettoarchivs, das zur Verwaltung des Vorsitzenden des Judenrates, Mordechaj Chaim Rumkowski, gehörte, ermöglicht sie einen Blick auf die Lebensbedingungen und Reaktionen der Bewohner aus einer Innenperspektive. Die mörderischen Auswirkungen der nationalsozialistischen Politik werden am Beispiel konkreter Schicksale deutlich, was die Ereignisse für heutige Leser nachvollziehbar und gerade deshalb bewegender werden lässt als es eine Statistik jemals könnte.

Eine der wichtigsten Botschaften des Textes ist hierbei die Vielfältigkeit, mit der die Bewohner auf die Realität des Gettos reagierten: Von den Konfliktlinien zwischen den verschiedenen politischen Gruppierungen über Suppenstreiks als Protest gegen die Politik Rumkowskis bis hin zu einem in einem Kinderwagen improvisierten Gemüsegarten reichten die Interpretations- und Handlungsformen der Menschen - wodurch zugleich deutlich wird, dass die Eingeschlossenen keine anonyme und passiv ihr Schicksal hinnehmende Masse darstellten, sondern vielmehr sehr individuell um ein halbwegs menschliches Leben in einer unmenschlichen Umgebung kämpften.

Überleben meint zugleich aber auch die Tatsache, dass Menschen selbst unter zutiefst sinnfernen Umständen danach streben, ihrem Handeln einen Sinn zu geben. Die Chronik kann neben ihrem Wert als historische Quelle auch als Ausdruck des Willens gelesen werden, durch eine feste chronologische Form eine Normalität zu konstruieren, um so die alles andere als normale Gegenwart erträglich zu machen. Ab 1943 prägt zudem ein zunehmend feuilletonistischer Schreibstil die Aufzeichnungen, was den Anspruch widerspiegelt, die Texte auch für spätere Leser nach der Welt des Gettos zu verfassen. Die Chronik ist somit zugleich ein Monument des Überlebenswillens, ein Akt des Widerstands gegen die von deutscher Seite angestrebte Vernichtung des Judentums in Geschichte, Gegenwart und zukünftiger Erinnerung.

Es ist das Verdienst der Mitarbeiter der Arbeitsstelle Holocaustliteratur an der Universität Gießen sowie des Staatsarchivs in Lodz, mit der nun vorliegenden Edition die Chronik samt der in ihr enthaltenen Biographien einem deutschsprachigen Publikum zugänglich gemacht zu haben. Es wird damit nicht nur eine historisch äußert wertvolle Quelle erschlossen, sondern zugleich auch posthum dem Willen ihrer Verfasser zur Realisierung verholfen, über den nationalsozialistischen Willen zur ,,Auslöschung" zu obsiegen und Zeugnis abzulegen. Ein interdisziplinäres Team von Philologen und Historikern hat erstmals systematisch die von Nachman Zonabend am Kriegsende geretteten und auf Archive in Polen, Amerika und Israel verteilten Textfassungen ausgewertet. Es konnte sich hierbei auf polnisch-, englisch- und hebräischsprachige Vorarbeiten stützen - eine derart umfassende Korrelierung aller Textvarianten sowie Verknüpfung mit weiteren Dokumenten lag bisher jedoch nicht vor. Das Gesamtwerk zeugt hierbei von einem intensiven Reflexionsprozess über den angemessenen Umgang mit dem Material: Die ersten vier Bände sind weitgehend auf den Chroniktext als solchen beschränkt, die Herausgeber haben sich bewusst zurückgenommen und auf knappe historische Einführungen sowie einen umfangreichen Anmerkungsapparat beschränkt. So gelingt es ihnen, zunächst einmal die Chronik für sich selbst sprechen zu lassen. Die Lektüre der Einträge macht rasch deutlich, dass dies eine gute Entscheidung war.

Ein abschließender fünfter Band bietet dann eingehende historische Kontextualisierungen sowie bis ins kleinste Detail reichende Informationen und Überlegungen zur Sprache der Chronik sowie zu ihrer Überlieferungsgeschichte. Zudem werden die Nachweise aller archivalischen Dokumente übersichtlich aufgelistet und um ein umfangreiches Verzeichnis publizierter Quellen sowie relevanter Forschungsliteratur ergänzt - ein überaus dankenswerter Ansatzpunkt für zukünftige Arbeiten zum Getto Litzmannstadt und seinen Bewohnern. Abgeschlossen wird der Band von einem vierfach untergliederten Personenregister, was zum einen angesichts des voluminösen Umfangs der Chronik die Benutzung nachhaltig erleichtert und zum anderen noch einmal die grundlegenden historischen Rahmenbedingungen der Thematik klar macht: Opfer des Nationalsozialismus werden von deutschen Funktionsträgern getrennt aufgeführt.

Ein Großprojekt wie diese Edition ist bei allem Einsatz der Mitarbeiter ohne die Unterstützung zahlreicher Institutionen und Personen, von der DFG bis zu den studentischen Hilfskräften, nicht realisierbar - die lange Danksagung am Ende des fünften Bandes spricht diesbezüglich für sich. Lobend erwähnt sei zudem noch der Wallstein-Verlag, der nicht nur eine trotz der bedrückenden Materie sehr schöne und benutzerfreundliche Ausgabe produziert hat, sondern die Bände mit einem Gesamtpreis von 128 € auch zu einem erschwinglichen Preis auf den Markt bringt. Es bleibt zu hoffen, dass die Bände viele Leser und Nutzer finden - ebenso wie die noch nicht abgeschlossene polnischsprachige Parallelausgabe. Erst wenn auch in Lodz das entsprechende polnische Pendant der Öffentlichkeit vorgestellt werden kann, hat diese gemeinsame Arbeit ihr vorläufiges Ende gefunden.

Hans-Christian Petersen, Mainz


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