ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Minna Specht, Gesinnungswandel. Beiträge zur Pädagogik im Exil und zur Erneuerung von Erziehung und Bildung im Nachkriegsdeutschland, hrsg. und eingel. von Inge Hansen-Schaberg unter Mitarbeit von Sigrid Rathgens (Schriften des Exils zur Bildungsgeschichte und Bildungspolitik, Bd. 2), Verlag Peter Lang, Frankfurt/Main etc. 2005, XXVIII + 255 S., 4 schw.-w. Abb., brosch., 41,90 €.

,,Minna Spechts Ideen zur multikulturellen und internationalen Erziehung sind angesichts aktueller politischer Ereignisse von besonderer Wichtigkeit, wenn es darum geht, Friedensbereitschaft und Toleranz im Bewußtsein von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen zu verankern." Mit diesem Satz beschließt die Herausgeberin Inge Hansen-Schaberg, eine eminente Kennerin der Geschichte der Reformpädagogik und speziell des Lebens und der Werke der im Februar 1961 mit 81 Jahren verstorbenen Sozialistin und Pädagogin Minna Specht, ihre Einleitung. Darin stellt sie die hier veröffentlichten 26 Schriften, von denen 13 bislang im Archiv der sozialen Demokratie und eine im Archiv der Odenwaldschule Oberhambach schlummerten, in den historisch-, gesellschafts-, erziehungs- und schulpolitischen Kontext, der den Lebenslauf der Verfasserin als Exilantin in Dänemark und England und als Remigrantin in Deutschland bestimmte. Es gelingt Hansen-Schaberg, eine Entwicklung im Denken und Handeln, oder soll man sagen: eine Selbsterziehung der Lehrerin und Erzieherin Minna Specht im Exil sichtbar zu machen, zumal sie auch den beruflichen, persönlichen und politischen ,,Werdegang" bis 1933 skizziert: Nach Höherer Mädchenschule, Ausbildung zum und Beschäftigung als Lehrer folgte ein Studium der Geschichte, Geografie-Geologie sowie Mathematik. Die Partnerschaft mit dem neu-kantianischen Philosophen und Sozialisten Leonard Nelson ab 1915 schlug sich nieder in der Mitgründung des Internationalen Jugend-Bundes, dann des Internationalen Sozialistischen Kampfbundes (ISK), für den sie auch journalistisch tätig wurde, und nicht zuletzt in der Arbeit und Zielsetzung des Landerziehungsheims Walkemühle in Adelshausen bei Melsungen in Hessen. Der für das vorliegende Buch gewählte Titel ,,Gesinnungswandel" ist der gleichnamigen ,,zentrale[n] programmatischen Schrift von Minna Specht" aus dem Jahre 1943 entnommen, der Untertitel ,,Die Erziehung der deutschen Jugend nach dem Weltkrieg" (S. 70-110) benennt ,,schlagwortartig die Aufgabe, die vornehmlich in die Zuständigkeit von Pädagoginnen und Pädagogen fällt" (Hildegard Feidel-Mertz. Vorwort S. XI).

Die Texte Minna Spechts sind theoretischer und praktischer Art. Die mit Blick auf aktuelle und zukünftige Aufgaben geschriebenen Reflexionen, Richtlinien und Handlungsanleitungen sind durchweg auch Diskussionsstücke, bestimmt für den internen Rahmen der Schule (Lehrer/Erzieher und Kinder) oder für das Führungsgremium des ISK oder für die heterogene Gruppierung ,,German Educational Reconstruction" (GER). Die Herausgeberin hat alle Dokumente mit einem einführenden Vorspann und, wo sachlich oder biografisch nötig, mit bibliografischen oder erläuternden Angaben versehen und sie in drei Sparten gegliedert. (Was fehlt, ist eine Angabe zu Art und Umfang der ungedruckten Quellen, aber das nur nebenbei.)

Unter ,,I. Erziehungspläne und Schulkonzeptionen im Exil" finden sich acht chronologisch geordnete Schriften aus den Jahren 1934 bis 1944. Diesen vorangestellt ist unter dem Titel ,,Die Schule" eine für die Nachkriegsarbeit richtungweisende ,,Art Rechenschaftsbericht" (Hansen-Schaberg, S. 4) von 1942 über das, was das Experiment Landerziehungsheim Walkemühle mit und an den Erwachsenen bis Hebst 1931 und besonders mit und an den Kindern bis zum März 1933, als die SA das Internat besetzte und die Schule auflöste, dann in den wiedergegründeten Schulen im Exil geleistet hat. Verschwiegen wird nicht, was falsch gemacht worden ist bzw. was ,,sich heute auf der gesicherten Grundlage von Erfahrungen entspannter und mit größerer Selbsttätigkeit einrichten ließe". Dazu gehörten z.B. die ,,Anforderungen an persönliche Einschränkungen", an deren erster Stelle ,,der Verzicht auf persönlichen Briefwechsel" stand, oder die Abkapselung von der Außenwelt, anstatt ,,mehr Gastlehrer und Kursteilnehmer zuzulassen" (S. 7).

Abteilung II enthält zehn nicht chronologisch abgedruckte ,,Analysen zur Kindheit und Jugend unter NS-Herrschaft und Pläne für die Erneuerung der Erziehung". Sie beginnt mit der oben bereits genannten Schrift ,,Gesinnungswandel" und endet mit dem Bericht über die ,,Internationale Studienwoche für das kriegsgeschädigte Kind", die im September 1945 in Zürich stattfand und an der Minna Specht als Mitglied der englischen Delegation teilnahm. Der Text vermittelt neben dem Ablauf, den Zielen und Entwürfen auch die offene und zugleich gegenüber den deutschen Teilnehmern gespannte Atmosphäre der Zusammenkunft aus Sieger-, Opfer- und neutralen Staaten. Am beeindruckendsten in dieser Abteilung und wohl überhaupt unter den wiedergegebenen Dokumenten ist die hier erstmals veröffentliche Rede, die Minna Specht auf dieser Studienwoche schließlich doch als ,,Deutsche" über ,,Erziehungsprobleme in der deutschen Jugend" (S. 153-160) halten durfte. In ihr gehen rationale Analyse und mitfühlende, jedoch nicht sentimentale Trauer eine glückliche Verbindung ein, die in einfach formulierte Vorschläge zu einem schrittweisen Aufbau einer Wieder- oder Umerziehung der von der nationalsozialistischen Ideologie und dem Krieg verstörten Jugend münden. Die jungen Menschen sollen ,,Selbstachtung" und ,,Vertrauen" (wieder)gewinnen, sich freiwillig in eine neue Rechtsordnung in Deutschland einfügen und durch Ko-Edukation und ,,Europa-Schule" jenseits von Ideologien und Parolen zu einem friedlichen Miteinander der Generationen, Völker, Rassen und Religionen gelangen. Fern ist hier jeder Anflug von Härte (wohl aber werden ,,Grenzen" gefordert), von Erziehungsdiktatur und Eliten(heran)bildung, die jedenfalls noch in der Zwischenkriegszeit nicht nur im ISK als Mittel zu Freiheit und Entfaltung der Persönlichkeit, insbesondere zunächst der Erzieher selbst angesehen wurden.

Bis auf das letzte Dokument, ,,Bericht und Pläne für das Landerziehungsheim Odenwaldschule bei Heppenheim an der Bergstraße, Groß-Hessen (2.1.1947)" sind die in Rubrik III., ,,Bestandsaufnahmen und Perspektiven für das Schulwesen im Nachkriegsdeutschland", aufgenommenen Texte als Etappen zu Minna Spechts in Zürich vorgetragenen Gedanken zu lesen. Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus gesehen erschließen sie erst die Rede; insofern ist die ohnehin etwas forciert wirkende Einteilung in Rubriken problematisch. Da ist der Entwurf für den organisatorischen und inhaltlichen Schul- und Lehraufbau für die ,,Erziehung zur Demokratie", den Specht im Mai 1943 zusammen mit dem Gewerkschafter Kurt Weckel für die ,,Programmberatungen zum Thema ,Kulturpolitik, Schule und Erziehung` bei der ,Union deutscher sozialistischer Organisationen in Großbritannien`" schrieb (S. 188-192). Die dort umrissenen Grundlinien sind konkreter in den folgenden Dokumenten bis zum März 1945 herausgearbeitet. Sie entstanden in der Auseinandersetzung mit konträren Rapporten zweier englischer Organisationen (III.4, ,,Kontrolle der Erziehung im Nachkriegsdeutschland", S. 200-206) und vor allem im Zusammenhang mit Spechts Arbeiten in der GER: ,,Der künftige Aufbau des Schulsystems in Deutschland" (III.3) - hier findet sich auch die Vorstellung, ,,Die Schule soll eine allgemeine Schule des Volkes sein", die aktuell auf Norwegen, historisch auf die ,,Einheitsschule" in der Weimarer Republik" verweist -, ,,Vorbereitende Schritte vor und bei Eröffnung der Schule" (III.5) und ,,Deutsche Erziehungsprobleme. Notmaßnahmen in der Schule" (III.6). An den Anfang dieser Rubrik setzt die Herausgeberin, die chronologische Entwicklung wiederum unterbrechend, die für das German Educational Reconstruction Committee im April 1944 verfaßte Übersicht über ,,Deutsche Reformschulen vor Hitler" (S. 168-187); sie lag bisher nur in der englischsprachigen Veröffentlichung der GER aus demselben Jahr vor. Es mag sein, daß die zusammenhängende Beschäftigung mit den verschiedenen Landerziehungsheimen, ihren Ursprüngen, Idealen, sozialen Strukturen und schul-, partei- und staatspolitischen Realitäten sowie der öffentlichen Meinung(en), nicht zuletzt auch der Vergleich mit englischen Schulen den Blick auch auf die Gefahren abgeschirmt isolierter Erziehung geschärft hat. So wird am allerdings psychologisch zugespitzten Beispiel des Pädagogen Hermann Lietz die Dienstbarkeit für den Missbrauch durch autoritäre, nationalistische Bewegungen und deren Zwecke, wie sie der Nationalsozialimus dann in seinen Erziehungsanstalten realisierte, demonstriert. Aus der kritischen Reminiszenz an die ,,eigene" Walkemühle zieht Minna Specht Schlüsse für eine in Teilen revidierte, nicht mehr nur auf die Arbeiterklasse fokussierte, offene, international orientierte und organisierte Erziehungs- und Bildungsarbeit für ein demokratisches Deutschland in einem neuen Europa.

Die Bibliografie der gedruckten und ungedruckten Schriften zwischen 1917 und 1951 (S. 237-247) unterstützt die Ansicht der Rezensentin, dass mit dieser Edition ein Schatz präsentiert wird, der sowohl Minna Specht aus dem Schatten anderer pädagogischer Autoren hervortreten läßt als auch, zusammen mit den Angaben zu ,,Biographie/Rezeption« (S. 247-252), Stoff zu weiterer Forschung bietet.

Ursula Langkau-Alex, Amsterdam


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