ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Gerhard Besier/Hermann Lübbe (Hrsg.), Politische Religion und Religionspolitik. Zwischen Totalitarismus und Bürgerfreiheit (Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung, Bd. 28), Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2005, 415 S., geb., 34,90 €.

Dass es mit der klassischen These von der Säkularisierung der modernen Welt nicht so weit her ist, hat sich seit langem herumgesprochen. Die Anschläge vom 11. September haben hier eine bestehende Tendenz lediglich verstärkt. Offenbar ist das Modell eines anhaltenden politischen Bedeutungsverlustes von Religion bei weitem zu teleologisch gedacht. Das gilt historisch und auch beim Blick auf Entwicklungen und Konflikte in gegenwärtigen Gesellschaften. Nicht vom Verschwinden von Religion aus den öffentlichen bzw. den sozial bestimmten Dingen ist also zu reden, sondern von Neujustierungen des Verhältnisses von Politik und Religion im Zuge der Moderne.

Unter dem etwas unspezifischen Titel ,,Politische Religion und Religionspolitik. Zwischen Totalitarismus und Bürgerfreiheit" verbirgt sich genau diese Frage nach der Stellung von Religion in Geschichte und Gegenwart moderner Gesellschaften. In insgesamt drei Anläufen werden zunächst historisch die autoritären und totalitären Ideologien und Regime des 20. Jahrhunderts sowie die Entstehung der Zivilreligion in den USA untersucht. Anschließend wenden sich zeitgenössische Analysen ebenfalls den USA, der islamischen Welt, aber auch dem heutigen Deutschland oder Polen zu. In einem dritten Ansatz geht es schließlich um systematische Fragestellungen im Feld von Politik und Religion, um Fundamentalismus oder das Problem multireligiöser Gesellschaften.

Eine einheitliche These wird in dem Band nicht entwickelt, bestimmte Schwerpunkte lassen sich dennoch ausmachen. Drei von ihnen seien erläutert: So konzentriert sich der historische Teil erfreulicherweise nicht nur auf die ,politischen Religionen' des Marxismus oder des Nationalsozialismus und erweitert so die übliche Bandbreite historischer Beziehungen zwischen Religion und Politik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Gilbert Merlio zeigt, dass die französische Gesellschaft zwar auch nach 1905 weniger laizistisch war, als man vermuten könnte, dass sie aber gegen quasireligiöse Bewegungen, wie sie Claus-Ekkehard Bärsch und Klaus-Georg Riegel im vorliegenden Band anhand des Marxismus-Leninismus bzw. des Nationalsozialismus beschreiben, weitgehend immun blieb. Der französische Faschismus entwickelte sich vor allem nicht zu einer messianischen Bewegung. Wenn es eine zivile Religion in Frankreich gab, dann lag sie im republikanischen Lager, damit aber war sie in gewisser Weise etabliert, in die Traditionen des Staates eingebunden und so ohne revolutionäre Kraft. Gerhard Besier untersucht berufsständisch-autoritäre Tendenzen des politischen Katholizismus der Zwischenkriegszeit. Neben dem Messianismus der totalitären Ideologien und Regime sowie zivilreligiösen Momenten zeigt sich hier eine dritte Variante der Verbindung von Politik und Religion im 20. Jahrhundert. Besier deutet die daraus resultierende Nähe der katholischen Kirche zu den Diktaturen in Österreich, Polen, Spanien und anderen Ländern als das Konzept einer ,,`radikalen` Rekatholizierung Europas unter autoritären Vorzeichen." (S. 79).

Sowohl im zeitgenössischen als auch im systematischen Teil bildet noch vor der Untersuchung von religiösen Fundamentalismen wie dem Islamismus die Frage nach dem Umgang mit dem wachsenden religiösen Pluralismus innerhalb der westlichen Welt den eigentlichen Schwerpunkt. Praktisch alle diesem Themenfeld gewidmete Beiträge gehen dabei davon aus, dass die Vorstellung, Religion gewähre einen in irgendeiner Weise besonderen Zugang zu grundlegenden Werten, überholt ist. So stellt Hans Michael Heinig Ernst-Wolfgang Böckenfördes Diktum von dem freiheitlichen Staat, der von Voraussetzung lebe, die er nicht selbst schaffen könne, bezogen auf die Religion zweifach in Frage. Zum einen habe diese auch ,,desintegrative[s] Konfliktpotential", zum anderen solle man die ,,selbststabilisierenden Integrationseffekte des freiheitlich-demokratischen Willensprozesses" nicht unterschätzen (S. 201ff.). Ebenso verwahrt sich Jan Philipp Reemtsma gegen die Anmutung, Religion biete einen ,,privilegierten Zugang[s] zur Wahrheit" (S. 393). Derjenige, der seine Normen säkular begründet, beziehe diese nicht aus weniger verbindlichen, sondern lediglich aus anderen Quellen (S. 405). Markus Vinzent spricht entsprechend von einer ,,Neubestimmung der gegenwärtigen westlichen Geisteslage", in welcher ,,die Gläubigen allein, und nicht die säkulare Gesellschaft, rechenschaftspflichtig sind" (S. 217). Dieser Offenheit müssen sich aber nicht nur die christlichen Kirchen stellen, sondern auch der Staat, indem er zum Beispiel zu einer ,,liberalen Regulierung der religiösen Pluralität" findet, wie sie Jean-Paul Willaime vertritt und in verschiedenen europäischen Ländern bereits beobachtet (S. 345).

Als dritter Schwerpunkt seien schließlich die Analysen der amerikanischen Situation genannt. Immerhin vier der insgesamt 20 Beiträge sind ihr gewidmet. Michael Zöller und Manfred Brocker zeigen, dass der europäische Blick auf die USA hier weiterhin großen Missverständnissen unterliegt. Zöller verweist darauf, dass Religion in den Vereinigten Staaten nicht nur ein Ort der ,,sozialen Teilhabe" und ,,sozialen Beglaubigung" (S. 135) geblieben ist, sondern die Religionsgemeinschaften auch einem starken Wettbewerb unterliegen, der u.a. dafür sorgt, dass diese bis heute immer wieder Vorreiter neuer Entwicklungen geworden sind (S. 142). Manfred Brocker ordnet George W. Bushs religiös gefärbte Rhetorik in die Tradition der politischen Sprache in den USA ein. Von dieser unterscheide sich die Rhetorik des jetzigen Präsidenten nur wenig, seine Politik sieht Brocker entsprechend weniger von religiösem Fundamentalismus geprägt, als pragmatischen partei- und interessenpolitischen Überlegungen unterworfen. Insgesamt, so schließlich Derek Davis, liege in den USA eine ganze Mixtur von unterschiedlichen Verbindungen zwischen Politik und Religion vor, deren Elemente allein genommen merkwürdig erscheinen mögen, zusammen aber eine durchaus gelungene Kombination ergäben. Davis beschreibt sie als Nebeneinander von Trennung von Kirche und Staat, Integration von Religion und Politik sowie zivilreligiöser ,,Akkommodation" (z.B. S. 176).

Am Ende seien zwei Vorzüge des auch insgesamt gelungenen Buches hervorgehoben. Der Band versammelt Wissenschaftler zahlreicher Disziplinen. Neben Historikern und Politologen finden sich Juristen, Philosophen, Soziologen, Religions- und Literaturwissenschaftler. Die daraus resultierende Perspektivenvielfalt, die nie ins Disparate abgleitet, ist die eine Stärke. Die andere liegt darin, dass der Band nicht beim Verhältnis von Islam und westlicher Welt oder den aktuellen Erscheinungen des Fundamentalismus stehenbleibt, sondern diese gegenwärtigen Problemlagen vor dem Hintergrund historischer Erfahrungen mit eigenen innerwestlichen Entwicklungen in Beziehung setzt. Damit wird vor allem deutlich, dass das Verhältnis von Religion und Politik auch innerhalb der westlichen Gesellschaften stets im Fluss geblieben ist.

Friedrich Kießling, Erlangen


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