Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Florentine Fritzen, Gesünder leben. Die Lebensreformbewegung im 20. Jahrhundert (Frankfurter Historische Abhandlungen, Bd. 45), Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2006, 366 S., geb., 69,00 €.
Die Frage des gesunden Lebens hat die Menschheit von Alters her beschäftigt. Teil der naturphilosophisch orientierten Medizin war insbesondere eine Diätetik, die sich als ,,Gesundheitsregimen" mit vielfältigen, Leib und Seele betreffenden Verhaltensanweisungen bis in das frühe 19. Jahrhundert (Christoph Wilhelm Hufeland) weiterentwickelte. In ihren Diskursen ging es vor allem um das richtige Maß im Lebensalltag. Mit Beginn der naturwissenschaftlichen Moderne jedoch überließ die neue, organpathologisch ausgerichtete ,,Schulmedizin" weite Bereiche des Gesundheitswesens der Laienheilkunde. Auf dem Hintergrund eines verbesserten Lebensstandards und wachsender medizinischer Kenntnisse spielte im Alltag immer weniger das Überleben, sondern die Lebensqualität eine Rolle. ,,Gesünder leben" wurde daher insbesondere für besser situierte, mittelbürgerliche Schichten zum neuen Programm. Die Initiativen der entsprechenden Lebensreformbewegungen reichten dabei von der Gründung spezieller Heilstätten, in denen ,,nervöse" Städter ihre strapazierten Körper Licht und Luft aussetzen konnten, bis zum Vertrieb ,,gesunder" Nahrungsmittel.
Die Frankfurter Dissertation von Florentine Fritzen (Betreuung Lothar Gall) widmet sich im Rahmen dieses breiten Spektrums der Lebensreform vor allem der Geschichte des Reformhauses. Damit wendet sich die Autorin in dieser interessanten und gut lesbaren Studie nicht allein einem Forschungsdesiderat zu, sondern zeigt zugleich in neuer Weise die engen Zusammenhänge von (nur scheinbar skurrilen) Gesundheitsprogrammen und moderner Gesellschaft. Gerade die Geschichte der Reformwaren nämlich, so zeigt Fritzen überzeugend, war seit der Jahrhundertwende eng mit den ökonomischen und politischen Entwicklungen in Deutschland verbunden, die Unternehmer (Händler oder Ladenbesitzer) profitierten in eigener Weise vom gesellschaftlichen Fortschritt.
Fritzen unterscheidet drei Entwicklungsetappen, die der durch Vegetarismus (gemeint waren zunächst kräftigende, nicht unbedingt fleischlose Nahrungsmittel) und Naturheilkunde geprägten Vorgeschichte im Kaiserreich folgten: Die Jahre von 1918 bis 1933 waren durch ein sich rasch erweiterndes Netzwerk der Reformwarenhändler und Reformhausbetreiber mit prosperierenden Betrieben gekennzeichnet. Der Vertrieb ,,vitaler" Lebensmittel korrespondierte dabei erfolgreich mit der gesundheitspolitischen Schwerpunktsetzung der Weimarer Republik im Bereich der Prophylaxe. Von der Gleichschaltung in den Jahren 1933 bis 1945 war die Lebensreformbewegung nur partiell betroffen. Jüdische Mitglieder wurden bald aus den Vereinen ausgeschlossen und eigenständige Initiativen außerhalb der ,,Deutschen Lebensreform-Bewegung" unterbunden. Das Anliegen einer ,,Naturheilkunde", die jenseits einer vielfach als artifiziell diffamierten ,,Schulmedizin" zur körperlichen Ertüchtigung des ,,deutschen Volkes" beitrug, fügte sich durchaus in ein nationalsozialistisches, auf ,,Rasse" und ,,Blut" gerichtetes Bevölkerungsprogramm ein. Folgerichtig verband sich zumindest ein Teil der Lebensreformer mit dem neuen Regime, viele Reformhäuser bestanden auch unter den neuen politischen Vorzeichen fort. Veränderungen ergaben sich allerdings im Warenangebot durch die Isolierung Deutschlands, die wachsenden kriegsbedingten Versorgungsengpässe und schließlich durch das Städtebombardement. Die dritte Phase von 1945 bis 1989 zeigt die Wiedereinrichtung von Reformhäusern in Ost- und Westdeutschland. Immerhin hielten sich einzelne Reformhäuser mit reduziertem Angebot auch in der DDR bis zur ,,Wende". Mit der neuen Ökologiebewegung nach 1968, der Zeit der ,,Supermärkte" und Ladenketten (Edeka-Läden boten frühzeitig ,,Naturkost" an), zugleich aber auch mit dem inzwischen erreichten ,,Pensionsalter" der zu Beginn des 20. Jahrhunderts geborenen ,,Generation Reformhaus" kam es zu dem grundlegenden Wandel, der den heutigen Nahrungsmittelhandel mitbestimmt: zur Versorgung mit sogenannten biologischen Lebensmitteln. Allerdings sind viele Artikel des alten Reformhauses in dieses neue, überall angebotene Warensortiment eingegangen.
Fritzens Untersuchung basiert vor allem auf der Auswertung der zahlreichen Vereins-, Kunden- und Branchenzeitschriften, die hier erstmals systematisch vorgestellt werden. Neben Hinweisen auf die Geschichte des Reformhauses gewinnt die Autorin aus den darin publizierten Texten auch Erkenntnisse über die Gesundheits- und Körpervorstellungen der Lebensreformer. Hier zeigt sich ein breites Spektrum zwischen quasi-religiösen Ideologien bis zu ganzheitlichen ,,natürlichen" Körperkonzepten. Im Unterschied zur heutigen Umweltbewegung sahen die Reformhausbetreiber allerdings den Menschen noch weitgehend isoliert. Die Verantwortlichkeit für die Erhaltung bzw. Wiederherstellung eines weltweiten ökologischen Gleichgewichts macht eine neue Qualität postmoderner ,,Lebensreform" aus. Diese anregende Studie zeigt, dass mit der Bearbeitung eines Themas, dass noch vor wenigen Jahren der Geschichtswissenschaft exotisch erschien, ein wichtiger Beitrag nicht nur zur Genese der Moderne, sondern im weiteren Sinne auch zur aktuellen Diskussion um das Weltklima geleistet werden kann.
Christina Vanja, Kassel