ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Ivan T. Berend, Markt und Wirtschaft. Ökonomische Ordnungen und wirtschaftliche Entwicklung in Europa seit dem 18. Jahrhundert (Synthesen. Probleme europäischer Geschichte, Bd. 4), Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2007, 238 S., kart., 29,90 €.

Berends Buch erscheint in einer neuen Reihe, die Synthesen zur europäischen Geschichte präsentieren will. Es geht also nicht um neue Forschungsergebnisse, sondern um die Zusammenfassung unseres Wissensstandes zur europäischen Geschichte und - so ist zu vermuten - um die Öffnung einer genuin europäischen Vergleichs- und Interpretationsdimension. Das Thema ,,Markt und Wirtschaft", das der in Kalifornien lehrende ungarische Ökonom und Wirtschaftshistoriker Ivan T. Berend abhandelt, eignet sich hierzu vorzüglich, stand und steht doch der ökonomische Strukturwandel in Europa in einem eigentümlichen Spannungsverhältnis zur Idee des freien Marktes. Deren gesamteuropäische Karriere, ihre Höhen und ihre Tiefen sowie die von ihr bzw. ihren Konkurrenten ausgelösten Institutionalisierungs- und Wandlungsprozesse nachzuzeichnen und dabei gemeinsame wie trennende Momente der europäischen Wirtschaftsgeschichte zu entfalten, die in den bisher zumeist nationalstaatlich angelegten Studien unsichtbar bleiben mussten, ist daher überaus reizvoll. Denn so sehr die europäische Welt seit der Aufklärung von der Idee des sich selbst regulierenden Marktes fasziniert bzw. abgeschreckt war, so sehr unterschieden sich die je nationalstaatlichen Wege des praktischen Umgangs mit dieser Idee. Dabei zeigten sich in gesamteuropäischer Hinsicht Übereinstimmungen und Analogien, aber eben auch deutliche Unterschiede.

Berend beginnt mit einer knappen ideengeschichtlichen Skizze, die die Entstehung der Idee des freien Marktes in den Kontext der Aufklärung des 18. Jahrhunderts stellt und den Höhepunkt ihrer Wirksamkeit im Liberalismus des 19. Jahrhunderts sieht. Der Niedergang des Liberalismus und der Aufstieg eines mehr oder weniger starken Interventionsstaaates fällt in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, der Keynesianismus in unterschiedlicher Form dominierte das Denken dann aber vor allem im Rahmen der Entstehung der westeuropäischen Wohlfahrtsstaaten, bis heute der Marktliberalismus im Kontext der Globalisierung zurückzukehren scheint. Innerhalb dieses groben chronologischen Schemas gab es abweichende Entwicklungen insbesondere in den eher peripheren Staaten des Südens, des Südostens und des Ostens und die zwei dirigistischen Varianten (Nationalsozialismus und sozialistische Planwirtschaft). Wenn auch nie wirklich klar gesagt, scheint Berend hierin ein Moment der Rückständigkeit bzw. im deutschen Fall der Sonderbedingungen nach dem Ersten Weltkrieg zu sehen. Der ,normale Fall' ist die mehr oder weniger modifizierte ,Herrschaft des Marktes'.

Nach dieser Skizze geht Berend in großen Strichen der wirtschaftshistorischen Entwicklung nach. Zunächst schildert er den unter einem marktliberalen Paradigma stehenden europäischen Industrialisierungsprozess, dessen regionale Disparitäten und dessen wirtschaftliche und soziale Risiken aber bereits im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts (sozial)protektionistische Gegenkräfte aufkommen ließen. Aber erst der Erste Weltkrieg bereitete dem liberalen europäischen Wirtschaftssystem des 19. Jahrhunderts ein Ende. An seine Stelle traten unterschiedliche interventionistische Regime in den entwickelten Marktwirtschaften und mehr oder weniger dirigistische Varianten in den zurückgebliebenen Staaten der europäischen Peripherie. Aus diesem Muster fallen das nationalsozialistische Deutschland und die Sowjetunion hinaus, weil hier explizit nicht marktwirtschaftliche Varianten der Ökonomie ausprobiert wurden, in Deutschland, um die Ergebnisse des Ersten Weltkrieges militärisch korrigieren zu können, in der UdSSR, um mit einer Entwicklungsdiktatur den ökonomischen Rückstand gegenüber der kapitalistischen Welt aufzuholen. Während der Nationalsozialismus unterging, breitete sich das sozialistische Modell in ganz Ostmittel- und Osteuropa mit zunächst durchaus großem Erfolg aus, um dann allerdings seit den 1970er-Jahren aufgrund innerer Reformunfähigkeit immer mehr den Anschluss zu verlieren. In der Nachkriegszeit schlägt für Berend vielmehr die Stunde gemischtwirtschaftlicher Regime, in denen eine relativ weitgehende Staatsintervention und eine entsprechende Rahmenplanung mit marktwirtschaftlichen Strukturen eine enge Symbiose eingingen. In diesem Rahmen gelang der Anschluss an die Produktivitätsentwicklung in den USA einerseits, der Auf- und Ausbau der spezifisch west- und mitteleuropäischen Wohlfahrtsstaaten andererseits. Dieser Form der gebändigten Marktwirtschaft gehört offensichtlich Berends Sympathie, so dass er abschließend deren Infragestellung durch ein neues marktliberales Paradigma im Zeichen der Globalisierung durchaus skeptisch betrachtet.

Soweit kurz gefasst Berends durchaus nachvollziehbare Argumentation. Interessant ist dabei insbesondere sein gesamteuropäischer Blick, der Abweichungen vom marktwirtschaftlichen Ideal offensichtlich mit ,,Rückständigkeit" in Verbindung setzt und dirigistischen Aufholversuchen entsprechend durchaus Erfolgspotenzial bescheinigt, sofern die Voraussetzungen stimmen und die Abweichungen von der Marktwirtschaft nicht so radikal erfolgen, dass unlösbare Koordinationsprobleme wie in der sozialistischen Welt auftreten. So plausibel, freilich auch konventionell diese Überlegungen sind, so enttäuschend sind die Ausführungen Berends beim näheren Hinsehen. Diese grobe Argumentation bildet das Korsett für eine Darstellung, in der kaum ein Detail richtig getroffen ist. Der Rezensent vermag den deutschen Fall einigermaßen zu beurteilen. Wenn die Fehlerdichte in den Ausführungen zu anderen Ländern auch nur annäherungsweise denen zu Deutschland entspricht, ist das Buch ein Ärgernis. Einige mehr oder weniger willkürlich herausgegriffene Punkte seien kurz genannt: Das Hilfsdienstgesetz führte keine Betriebsräte ein (S. 46), die Eisenbahn in Deutschland wurde nicht nach dem Ersten Weltkrieg verstaatlicht (S. 48), die Zentral-Arbeitsgemeinschaft war kein ,,gemeinsames Lenkungsorgan" für die Wirtschaft (S. 49), die Reichsbank hatte keinen Vorsitzenden (S. 53), die Ausführungen zu den Wurzeln des Nationalsozialismus sind geradezu grotesk (S. 81), 1934 gab es kein ,,Gesetz über den organischen Wiederaufbau der deutschen Wirtschaft" (S. 92), die Reichswirtschaftskammer war kein Wirtschaftsamt (S. 92), der Reichskommissar für die Preisbildung wurde nicht 1936 eingesetzt (S. 94), der Lohn- bzw. Preisstopp war nicht von 1936 bzw. 1933 (S. 94), die britische Besatzungsmacht setzte nicht die ,,obligatorische Mitbestimmung der Arbeiter auf Betriebsebene durch, die so genannte paritätische Mitbestimmung" (S. 164), diese war auch kein ,,tarifpolitisches Modell" (S. 164), das Mitbestimmungsgesetz von 1976 führte nicht die paritätische Besetzung der Vorstände mit Arbeitern in Unternehmen mit mehr als 2.000 Beschäftigten ein (S. 164), die hessische Landesverfassung wurde nicht von der britischen und französischen Besatzungsmacht gebilligt (S. 170), das Fernsehen und die meisten Versorgungsunternehmen befanden sich nicht im Bundeseigentum (S. 171), der Urlaub in der Bundesrepublik Deutschland betrug Mitte der 1950er-Jahre nicht 28 Tage (S. 185) usw.usf. Fast regelmäßig werden auch Millionen und Milliarden verwechselt, wohl ein Übertragungsfehler aus dem Amerikanischen.

Die Stärken des Buches liegen dort, wo Berend sich auskennt, nämlich in der Darstellung der Geschichte der Funktionsweise der sozialistischen Wirtschaften in Ostmitteleuropa. Ansonsten handelt es sich um eine äußerst nachlässige Darstellung, die zwar in der Rahmenargumentation nachvollziehbar ist, im Einzelnen aber mehr als enttäuscht. Hinzu kommt des Weiteren eine spürbare Unvertrautheit mit der immensen Forschungsliteratur. Die Lektüre (zum Teil älterer) amerikanischer und englischer Zusammenfassungen der europäischen Wirtschaftsgeschichte und ihre mehr oder weniger schludrige Wiedergabe ersetzen eben keine subtile Diskussion des Forschungsstandes; schon gar nicht bieten sie eine Synthese der europäischen Wirtschaftsgeschichte unter dem Paradigma des freien Marktes. Hier ist eine Chance vertan worden.

Werner Plumpe, Frankfurt/Main


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