Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Van Gosse, Rethinking the New Left. An Interpretive History, Palgrave MacMillan, London 2005, Ln., 240 S., $ 79,95 ($ 26,95 Paperback-Ausgabe).
Mit dieser knappen Synthese zur Geschichte der Neuen Linken der USA verfolgt der Autor ein doppeltes Anliegen: Erstens möchte er das in der amerikanischen Historiografie stark ausgeprägte ,,Dekaden"-Denken aufbrechen und die ,,sixties" in ihrem längerfristigen historischen und kulturellen Kontext erfassen. Diese Epoche ziehe sich vom Höhepunkt des Konsenses des Kalten Krieges Mitte der 1950er-Jahre bis in die frühen 1980er-Jahre, als sich in den USA auf der Linken einer neuer, ,,progressiver" Konsens herausgebildet habe. Zweitens verbindet er mit dieser chronologischen Langführung der ,,sixties" ein Plädoyer für eine sachliche Ausweitung des Gegenstandes, habe doch die Konzentration auf die Ära Kennedy-Johnson eine Verengung der Perspektive auf die weiße, überwiegend aus der Mittelklasse hervorgegangen Studentenbewegung des Nordens und Bewegungen wie dem SDS zur Folge gehabt.
Angesichts der hohen Aufmerksamkeit, die die überwiegend von Afro-Amerikanern getragene Bürgerrechtsbewegung und die (weiße) Frauenbewegung in der amerikanischen Historiografie regelmäßig erhalten, kommt dieser Befund doch überraschend. Sicher konzentrierten sich die frühen Studien der 1980er Jahre von Todd Gitlin, Maurice Isserman, James Miller und anderen zunächst auf den SDS und den Dissens weißer Studierender. Doch schon Sara Evans Klassiker, ,,Personal Politics" (1979), auf den sich der Autor ausdrücklich bezieht, arbeitete die Querverbindungen zwischen den verschiedenen Bewegungen, zwischen Neuer Linker im engeren Sinne, Bürgerrechtsbewegung und Frauenbewegung klar heraus und dürfte das Bild der außerparlamentarischen Gegenbewegungen der ,,langen 1960er" Jahre in den USA zum Teil auch außerhalb der akademischen Historie stark geprägt haben.
Wie das erste, die ,,Neue Linke" näher definierende Kapitel denn auch deutlich macht, geht es Gosse in einem Deutungskampf, der nur vor dem Hintergrund amerikanischer ,,history wars" und der damit einher gehenden akademischen Stellungskämpfe zu verstehen ist, um eine inhaltlich Neuausrichtung des Begriffes der ,,Neuen Linken", weniger um eine tatsächliche Ausweitung der Forschungsagenda um bisher vernachlässigte Aspekte und Gruppen. Tatsächlich demonstriert die kommentierte Bibliografie am Ende des Bandes ja auch eindrucksvoll, dass der außerparlamentarische Protest der 1960er-Jahre in den USA mit wenigen Ausnahmen als gut erforscht gelten kann. Gosse will die Neue Linke als Ensemble sozialer Bewegungen verstehen, die mit ihrer Kritik an der amerikanischen Außenpolitik, an der offenen und versteckten Diskriminierung ethnischer und rassischer Minoritäten sowie an geschlechtsspezifischen Benachteiligungen und solchen aufgrund sexueller Orientierungen vor allem eines gemeinsam gehabt hätten: die Wendung gegen bestehende Privilegien und eine radikale Vision gesellschaftlicher Gleichheit und umfassender Demokratisierung.
Wie die beiden einleitenden Kapitel zum gesellschaftlichen Kontext der 1950er-Jahre und zu den Entstehungszusammenhängen der Neuen Linken deutlich machen, richtete sich die Hauptkritik auch weniger gegen die politisch in den 1950er- und 1960er-Jahre schwache Rechte als vielmehr gegen jene, auf den New Deal zurückgehenden weißen Liberalen des Kalten Krieges, die im Kontext einer nur vordergründig Gleichheit gewährleistenden ,,amerikanischen Ideologie" Klassen- und Rassenprivilegien zu verfestigen geholfen hätten. Entsprechend den überwiegend in der afroamerikanischen Geschichte liegenden Forschungsinteressen des Autors, werden in neun Hauptkapiteln, die sich mit einzelnen Trägergruppen des außerparlamentarischen Protests beschäftigen, die Bürgerrechtsbewegung und der afroamerikanischen Freiheitskampf vom Seitenumfang her privilegiert. Die nördliche, weiße Studentenbewegung erhält deutlich weniger Platz. Sind Martin Luther King und die Bürgerrechtsbewegung längst Teil der offiziellen Erinnerungskultur der USA, so gilt das in weitaus geringerem Maße für andere rassische Minoritäten. Hier setzt Gosse einen wünschenswerten Gegenakzent, indem er ausführlich über den Protest nicht-weißer, nicht afroamerikanischer Gruppen, wie dem American Indian Movement (AIM) der 1960er- und 1970er-Jahre und den Vertretern und Vertreterinnen asiatischstämmiger und hispanischer US-Amerikaner und -Amerikanerinnen berichtet.
Abschließend fragt der Autor nach den Auswirkungen der Protestbewegungen auf die Gesellschaft der USA. Erwartungsgemäß zieht er eine positive Bilanz, möchte die Folgen der Aufbrüche der 1950er- und 1960er-Jahre unter dem Strich auf der Habenseite verbuchen. Amerika sei demokratischer und vielfältiger geworden. Wer aber könnte dem widersprechen? Tatsächlich brachen ja die alten Netzwerke des politischen Establishments auf, wurde der hysterische Antikommunismus des Kalten Krieges obsolet, gewannen bisher unterprivilegierte Randgruppen Zugang zu höherer Bildung, wurde die legale Diskriminierung wurde abgeschafft (nicht zuletzt mit Hilfe wohlmeinender cold war liberals wie Präsident Lyondon B. Johnson). Weiterhin macht Van Gosse als Errungenschaften aus: Akademische Curricula hätten sich ausdifferenziert und neue soziale Bewegungen, die auf den Erfahrungen der Neuen Linken aufbauten, hätten Fragen wie Umweltschutz oder die Rechte von Konsumenten politikfähig gemacht. Schließlich sei aufgrund der (von Gosse nur am Rande behandelten) parallelen Kulturrevolution Amerika weniger hierarchisch, offener und demokratischer geworden.
Sehr zurückhaltend kommt Gosse demgegenüber auf die Kosten der Demokratisierung durch die Neue Linke zu sprechen. Er erwähnt die zentrale Paradoxie, dass Amerika am Ende der liberalen Reformjahrzehnte zwar weniger Ungleichheit aufgrund rassischer und geschlechtsspezifischer Diskriminierungen kannte und dass mit der legalen Diskriminierung von Minoritäten ein für alle mal aufgeräumt wurde. Gleichzeitig nahm die soziale Ungleichheit zu, so dass Klassenfragen wieder ein Faktor beim Zugang zu Bildung, Arbeit und politischem Einfluss geworden sind. Diese Parallelität wäre es wert, statt nur knapp erwähnt vielmehr kritisch beleuchtet zu werden. Auch andere problematische Aspekte, etwa die Drogenkultur und der wachsende, auch unpolitische Hedonismus, werden kaum angesprochen. Nur kurz geht Gosse darauf ein, dass die Neue Linke in den USA einen radikalen Backlash provozierte, der mit George W. Bush seinen Höhepunkt fand, was enorme Auswirkungen auf die Stellung der USA in der Welt hatte. Zuverlässig werden dagegen die Querverbindungen zwischen einzelnen Bewegungen herausgearbeitet. Als eine Einführung in die Geschichte der Protestbewegungen der 1950er- bis 1970er-Jahre hat der präzise, klar argumentierende Band aber hohen Wert und kann daher vor allem für die Lehre empfohlen werden.
Philipp Gassert, Washington