ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Christoph Kleßmann, Arbeiter im ,,Arbeiterstaat" der DDR. Deutsche Traditionen, sowjetisches Modell, westdeutsches Magnetfeld (1945 bis 1971) (Geschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewegung in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, Bd. 14), J. H. W. Dietz Nachf., Bonn 2007, 892 S., geb., 68,00 €.

Christoph Kleßmann ist seit Jahrzehnten einer der besten Kenner der Geschichte der DDR. Jetzt unternimmt er den Versuch, eine umfassende Geschichte der Arbeiterschaft in der DDR unter dem kommunistischen Diktator Walter Ulbricht zu präsentieren. Dies gelingt ihm in vorzüglicher Art und Weise, obwohl er mit der negativen, wenn auch berechtigten, Einschätzung einleitet, dass Arbeiter- und Arbeiterbewegungsgeschichte in Deutschland schon lange keine Konjunktur mehr haben. Dies gilt insbesondere für die Sowjetische Besatzungszone und die DDR, da sich kommunistische Diktaturen nur dann schlüssig analysieren und erklären lassen, wenn die Arbeiterschaft als die angeblich tragende Säule dieser Systeme vorrangig in den Blick genommen wird. Dabei ist schnell zu erkennen, dass es in der zweiten deutschen Diktatur keine einheitliche, homogene Arbeiterklasse gab. Auch die Ideologen der Staatspartei vermochten es nicht, im eigenen Land eine Klasse von Arbeitern gültig zu definieren. Und so ist es ein besonderer Verdienst Kleßmanns, auf die bunte und heterogene Zusammensetzung der Arbeiter, ihre unterschiedlichen Interessen, Einstellungen und Verhaltensweisen nicht nur hinzuweisen, sondern diese samt ihrer Grundierung detailliert aufzuzeigen.

Auch in der DDR wirkte auf die Arbeiter verbindend, dass sie lohnabhängig waren. Das verband sie mit Arbeitern in der Bundesrepublik, doch lässt sich Arbeitergeschichte in der DDR nur dann verstehen, wenn sie nicht nur im Spannungsfeld deutsch-deutscher Konkurrenz, sondern auch im Bezugsrahmen der Sowjetisierung und von Traditionen der sozialistischen Arbeiterbewegung begriffen wird. In diesem Beziehungsdreieck war der Kampf der Kommunisten gegen den ,,Sozialdemokratismus" auch keine verschrobene Idee, sondern die Integration und Niederhaltung der Sozialdemokratie war eine der Existenzbedingungen der SED-Diktatur. Gleichzeitig kollidierte die Arroganz einer selbsternannten kommunistischen Avantgarde immer wieder mit den tatsächlichen Interessen der Arbeiter.

Die Situation der ostdeutschen Arbeiter nach der Befreiung vom Nationalsozialismus war nicht unwesentlich vom Hass auf Angehörige der Besatzungsmacht wegen deren Plünderungen und Vergewaltigungen und von der deprimierenden Erfahrung der Zerstörung intakter Betriebe durch oft sinnlose Demontagen geprägt. Dazu kam die Erfahrung des Absturzes vom höheren wirtschaftlichen Niveau im Vergleich zu den wesentlichen Besatzungszonen, und dann auf ein im Vergleich zur Bundesrepublik immer niedriger werdendes Niveau. Die aus dem sowjetischen Exil zurück kehrenden kommunistischen Exilanten blieben, davon unberührt, an Stalin orientiert - sie waren dies bereits 1945 gewesen und wurden es nicht erst mit der forcierten Stalinisierung der durch eine Vereinigung durch Zwang und Betrug zustande gekommenen Einheitspartei ab 1947/48. Die von vielen als ,,Russenpartei" eingeschätzte SED hatte in ihrem Kampf - anders als Kleßmann meint - gegen den ,,Sozialdemokratismus" jedoch mit Parteikontrollen und -säuberungen durchaus so großen Erfolg, dass sie sehr schnell eine rein kommunistische Partei war.

Zu Recht nimmt Kleßmann die auf Hermann Wentker zurückgehende Definition des 17. Juni 1953 als ,,im Kern von Arbeitern getragener Volksaufstand mit revolutionären Zügen" auf und beschreibt zutreffend das aus dem Aufstand resultierende Trauma für SED als angemaßte Arbeiterpartei und der Arbeiterschaft. Der daraus resultierende stillschweigende Sozialkontakt machte die Einheitsgewerkschaft FDGB zu einem wichtigen ,,Transmissionsriemen" kommunistischer Politik. Besonders nach 1953 besaß die betriebliche Sozialpolitik durch die Möglichkeit der geräuschlosen Konfliktbeseitigung eine ähnlich zentrale Bedeutung für die Herrschaft der SED. Das hatte zum einen ideologische Gründe, sollte aber auch ganz pragmatisch Defizite im Lebensstandard durch partielle soziale Absicherung in den Betrieben ausgleichen. So entwickelten sich - heute oft unverständlich - Betriebe zu einem Lebensmittelpunkt vieler Beschäftigter. Hier kreuzten sich Arbeit, kulturelle Angebote, Sozialleistungen und Möglichkeiten zum Massensport. Die Brigaden entwickelten sich als kollektive Arbeitsform mit ausgeprägten lebensweltlichen Bezügen. Dies war so erfolgreich, dass sie noch heute vielen Ostdeutschen in guter Erinnerung sind, was oft als Ostalgie missverstanden wird. In diesem Zusammenhang hat Kleßmann Unrecht, wenn er ausführt, dass der Titel ,,Brigade der sozialistischen Arbeit" begehrt gewesen wäre. Es war nicht dieser Titel, sondern die mit ihm verbundenen Leistungen, die Arbeiter interessierten.

Trotz der Erfolge in der betrieblichen Arbeitsorganisation war die erreichte Stabilität jedoch immer gefährdet, da sich die DDR immer mehr zu einer strukturkonservativen Industriegesellschaft entwickelte, die zusammenbrach, als die wirtschaftlichen Kräfte endgültig überspannt waren. Dazu kam, dass es den Herrschenden nie gelang, die verbreitete Altersarmut zu überwinden, die Wohnverhältnisse grundlegend zu verbessern und eine gute Versorgung der Bevölkerung zu garantieren. So blieb, verglichen mit der Bundesrepublik, das Konsum- und Freizeitverhalten ostdeutscher Arbeiter ,,befremdlich anders". Die Staatspartei setzte auf die Balance zwischen Druck und Verlockung. Je größer die Schwierigkeiten bei der Bedürfnisbefriedigung letztlich waren, umso mehr wuchs die Bedeutung der Geheimpolizei für die Balance zwischen Druck und Verlockung. Diese hatte auch mit der Wirkung der Bundesrepublik als Referenzmodell zu tun.

Aber auch die Staatssicherheit konnte den Eigensinn der Arbeiter, ihr Beharren auf persönliche Freiheit und individuelle Bedürfnisbefriedigung nicht brechen. Die gesamte Ära Ulbricht, aber auch darüber hinaus, prägte ein spezifischer Widerstand der Arbeiterschaft. Deren Verhalten beschreibt Kleßmann im Rückgriff auf Alf Lüdtke treffend als ,,missmutige Loyalität", als eine komplexe Form von Arrangement und Widerständigkeit. Auch der Begriff des ,,Eigensinns" im Spannungsfeld zwischen neuen Aufstiegschancen und politischer Machtlosigkeit eignet sich zur Beschreibung der oft verdeckten und komplizierten Formen des Widerstehens. Auch in diesem Zusammenhang wird erneut deutlich, dass die Analyse des Alltags einen zentralen Zugang zum Leben der Arbeiter gerade in Diktaturen mit totalitärem Anspruch bietet. Nur so lässt sich die ,dialogische Struktur' zwischen Führern und Geführten und deren damit zusammenhängendes spezifisches Selbstbewusstsein begreifen, das vielen ostdeutschen Arbeitern noch heute in positiver Erinnerung ist.

Schließlich stellt sich Kleßmann der Frage, ob KPD und SED als Teil der deutschen Arbeiterbewegung zu bewerten sind. Er kommt hier letztlich zu keinem eindeutigen Urteil und verwendet deshalb die anregende Kennzeichnung einer ,,verstaatlichten Arbeiterbewegung", die ihre freiheitlichen und autonomen Traditionslinien verloren haben. Wenn diesem Ansatz konsequent gefolgt wird, sollte das Herrschaftssystem der SED auch nicht als Sozialismus oder als sozialistisches Experiment bezeichnet werden. Dieses immer von der Sowjetunion als Hegemonialmacht abhängige Herrschaftsgefüge hatte nichts mit einem demokratischen oder freiheitlichen Sozialismus zu tun. Deshalb sollte es konsequent als kommunistische Diktatur auf deutschem Boden bezeichnet werden. Das wird künftig auch die Analyse der Rolle der Arbeiterschaft in einer ,,arbeiterschaftlichen Gesellschaft" erleichtern. Insgesamt bietet Kleßmann mit seinem Buch die bislang beste Analyse der Situation ostdeutscher Arbeiter während der ersten Hälfte der kommunistischen Diktatur.

Rainer Eckert, Leipzig/Schöneiche


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