Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
,,Ich werde es nie vergessen". Briefe sowjetischer Kriegsgefangener 2004 - 2006, hrsg. vom Verein ,KONTAKTE-KOHTAKTЫ e.V. in Kooperation mit dem Deutsch-Russischen Museum Berlin-Karlshorst, Ch. Links Verlag 2007, 274 S., 42 Abb., kart., 19.90 €.
In den letzten Jahren ist viel über Zwangsarbeit während des Nationalsozialismus geschrieben und geforscht worden. Dabei wurde eine spezifische Gruppe weitgehend ausgeblendet: die sowjetischen Kriegsgefangenen. Sie bilden nach den europäischen Juden die zweitgrößte Opfergruppe. 5,7 Millionen Soldatinnen und Soldaten der Roten Armee, so wird geschätzt, kamen während des Zweiten Weltkriegs in deutsche Gefangenschaft. Sie wurden unter unsäglichen Bedingungen, die gegen die auch vom Deutschen Reich unterschriebene Genfer Konvention verstießen, zu schwerster Fronarbeit herangezogen - in Steinbrüchen, Bergwerken, Rüstungsbetrieben. Vernichtung durch Arbeit: weit mehr als die Hälfte überlebte die Torturen nicht. Und wer in die Sowjetunion zurückkehrte, wurde im eigenen Land weiter erniedrigt und geschunden; denn Kriegsgefangene galten gemäß dem Stalin Befehl Nr. 270 als Verräter. Zwar wurden sie später rehabilitiert und unter Jelzin 1992 endlich auch als Opfer des Faschismus anerkannt; aber die gesellschaftliche Diskriminierung blieb, und - zynisch formuliert - folgerichtig wurden sie auch von den Zuwendungen ausgenommen, die über die Partnerorganisationen der bundesdeutschen Stiftung ,,Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" an die bislang nicht bedachten Zwangsarbeiter unter dem NS-Regime verteilt wurden.
Gegen diese Ungerechtigkeit kämpft der Verein KONTAKTE - KOHTAKTЫ. Er sammelt Spenden, um den mehrfach Verstoßenen, soweit sie noch aufzufinden sind, 300 € zukommen zu lassen - kaum mehr als eine Geste, ein ,,Ausdruck der Scham und ein Zeichen des Respekts", wie der Begleitbrief festhält, mit dem der Verein die Empfänger zugleich gebeten hat, über ihre Gefangenschaft, ihre Rückkehr und ihre gegenwärtige Situation zu berichten und sie im Land der Täter bekanntzumachen. Es entstand ein reger und erschütternder Briefverkehr. Aus den über tausend Schreiben, die in den vergangenen drei Jahren in dem Berliner Büro eingingen, hat der Verein sechzig ausgewählt, übersetzt, kommentiert und unter dem Titel ,,Ich werde es nie vergessen." im Christoph-Links-Verlag herausgebracht. In diesen Dokumenten der noch und zumeist von einer kleinen, 30 € kaum übersteigenden Monatsrente Lebenden sind Leid und Unrecht in vielen abstoßenden Facetten beschrieben bis hin zum kannibalischen Wahnsinn, in den der Hunger die Gefangenen trieb. Sie mussten die Leichen ihrer Kameraden wie Holz stapeln und vergriffen sich an ihnen. Die Brutalitäten mordlustiger Bewacher werden ebenso festgehalten wie einzelne Zeichen der Zuwendung: eine hingeworfene Zigarette, eine Scheibe Brot, ein geflüstertes Wort.
Schwere Traumata überwiegen, aber die Namen der wenigen, die sich menschlich zeigten, und tröstende Ausnahmesituationen haben sich den Überlebenden ebenfalls eingeprägt. Der über 80-jährige Nikolaj Iwanowitsch Djatschenko aus der Ukraine schreibt über den Aufseher Schuster, den er 1941 im Lager Villingen erlebte, er habe sich gegenüber den Kriegsgefangenen gut verhalten. Die Sadisten, die ihn später - nach einer misslungenen Flucht - im KZ Geilenberg geschunden haben, bleiben namenlos. Aber ihre Taten kann er nicht vergessen. ,,Man verprügelte uns oft, trieb uns nackt in den Frost hinaus und übergoss uns mit kaltem Wasser. Als wir Gruben aushoben und dort die Toten hineinwarfen, stieß die Wache mit dem Gewehrkolben die Schwächsten der Grabenden in die Gruben, und wir mussten sie bei lebendigem Leibe zusammen mit den Toten begraben." Fast jeder Brief spiegelt das Inferno faschistischer Gewaltexzesse. Dmitrij Antonowitsch Dmitrijenko schreibt ,,Ein Bewacher warf ein Stück Brot über den Stacheldraht, und als die Armseligen sich darauf stürzten, warf er eine Handgranate in die Menge." Solchen Schilderungen und den Erinnerungen an das Verhungern, Erfrieren, Verrecken unzähliger Mitgefangener, an die Schindereien in den Steinbrüchen, Stahlwerken und Kohleminen folgt eine Aussage, die absurd und wohl gerade deswegen glaubhaft ist: ,,Ich könnte noch viel Schreckliches berichten, aber in meinem Herzen habe ich kein Tröpfchen Hass...Wenn es keine guten Deutschen gäbe, dann wäre ich wohl tot."
Die Ambivalenzen in den Rückbesinnungen stellt Hilde Schramm, die Vorsitzende des Vereins, in einer Auswertung der Briefe heraus. Neben den anderen Motiven fällt ihr der ,,oft geradezu pathetisch vorgetragene Wunsch nach Verständigung als Voraussetzung für einen dauerhaften Frieden" auf. Christian Streit untersucht das Verhältnis zwischen der Deutschen Wehrmacht und den sowjetischen Kriegsgefangenen und belegt, dass das ,,Hungersterben" arbeitsunfähiger Gefangener, nicht nur hingenommen, sondern nachgerade verordnet wurde. Nicht selten vegetierten sie in selbst gegrabenen Erdlöchern und wurden von deutschen Ausflüglern wie exotische Bestien im Zoo begafft. Unter dem Titel ,,Blinder Fleck" setzt sich schließlich Peter Jahn, bis 2006 Leiter des Deutsch-Russischen Museums in Berlin-Karlshorst, mit der deutschen Erinnerungskultur auseinander und stellt fest, dass die sowjetischen Kriegsgefangenen, die in der Nazizeit Opfer einer gezielten und rassistischen Vernichtungspolitik wurden und dann in ihrer Heimat als Verräter galten, aus der historischen Forschung - in West und Ost - ausgeblendet wurden. In den Reden, die am 27. Januar, dem Tag der Auschwitz-Befreiung, der Opfer des Nationalsozialismus gedachten, wurden sie nicht erwähnt. Ohne jede Resonanz blieb bislang der Vorschlag des früheren Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde zu Berlin, Albert Meyer, neben den Denkmalen für die ermordeten Juden eine besondere Erinnerungsstätte für die sowjetischen Kriegsgefangenen zu errichten. Sie würde auch die martialischen Ehrungen der gefallenen Soldaten ergänzen. Mehr als 60 Jahre nach dem Krieg - so Jahn - sei es überfällig, das Leiden der sowjetischen Kriegsgefangenen zum ,,zentralen Bestand unserer Erinnerung" zu machen.
Das vorliegende Kompendium versucht, die selbstgestellte Forderung einzulösen - mit seinen einführenden und resümierenden Essays, die zugleich den bisherigen Forschungsstand reflektieren, vor allem aber mit den Briefen und Lebensläufen der Gefangenen, die womöglich die letzten der noch lebenden Zeugen dieser Opfergruppe sind. Erläuterungen, die auf den Alltag der Gefangenen - ihre Suppe hieß ,,Balanda" - ebenso eingehen wie auf die Lagerbürokratie - Dulag, Stalag, Oflag - oder die völkerrechtliche Problematik, sowie eine geographische Lagerliste ergänzen diesen wichtigen Band, dem jetzt weitere Detailstudien folgen müssen. Auf einer Informationstafel vor dem Dokumentations- und Begegnungszentrum, das seit zwei Jahren in Berlin-Schöneweide die Zwangsarbeit unter den Nazis untersucht, wird noch angegeben, dass in der Hauptstadt des Deutschen Reiches mehr als 1.000 Lager eingerichtet wurden. Die Zahl hat sich nach den jüngsten Erkenntnissen der zeitgeschichtlichen Forschung mehr als verdoppelt.
Johannes Wendt, Berlin