Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Stefan Lehr, Ein fast vergessener ,,Osteinsatz". Deutsche Archivare im Generalgouvernement und im Reichskommissariat Ukraine (Schriften des Bundesarchivs, Bd. 68), Droste Verlag, Düsseldorf 2007, XII + 412 S., geb., 38,00 €.
Die Erforschung des Dritten Reiches ist - nunmehr 75 Jahre nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten - längst noch nicht abgeschlossen. Spät hat sich die Geschichtswissenschaft mit ihrer eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen begonnen, und noch später sind die historischen Vereinigungen sowie die Archive und ihre Bedeutung zwischen 1933 und 1945 ins Blickfeld geraten. Eine ernsthafte Erörterung dieses Abschnitts ihrer Geschichte hat - wie bei anderen Berufsgruppen und Organisationen - lange nicht stattgefunden. Noch in den Neunzigerjahren war die Beschäftigung mit diesem Themenfeld in Archiven unerwünscht. Einen Durchbruch bewirkte hier der 75. Deutsche Archivtag 2005 in Stuttgart, der auch die wenigen älteren Publikationen zur Archivgeschichte des Dritten Reiches, z.B. Karl Heinz Roths, wieder ins Bewusstsein hob. Dennoch bleibt vor allem mit Blick auf die Geschichte einzelner Archive noch viel zu tun.
Angesichts dieses Befundes ist die Düsseldorfer Dissertation des Osteuropahistorikers Stefan Lehr umso verdienstvoller. Er analysiert den ,,Osteinsatz" deutscher Archivare im Generalgouvernement und im Reichskommissariat Ukraine und arbeitet in diesem Kontext die Verbindung zwischen archivarischer Tätigkeit und historischer Ostforschung heraus. Dazu zieht er synchrone sowie diachrone Vergleiche über den eigentlichen Untersuchungszeitraum hinaus. Dieser über das ,,Dritte Reich" erweiterte zeitliche Rahmen ermöglicht es Kontinuitätslinien wie Brüche zu benennen. Dies gelingt ihm auf Grundlage umfangreicher Recherchen in zahlreichen deutschen, polnischen, britischen, litauischen, österreichischen, russischen, tschechischen, ukrainischen und amerikanischen Archiven. Darüber hinaus hat Lehr viele gedruckte Quellen, vor allem Zeitschriften und Zeitungen, ausgewertet.
Lehr beginnt seine chronologische Darstellung bereits mit dem Einsatz preußischer Archivare in Polen während des Ersten Weltkrieges, um so zu einem Vergleich mit dem archivarischen "Osteinsatz" im Generalgouvernement und in der Ukraine zwischen 1939 und 1945 zu gelangen. Außerdem liefert er einen Überblick über das Archivwesen in Preußen, Polen und der Ukraine; er zeigt, dass schon vor dem Beginn des Zweiten Weltkrieges Archivare im Kontext der Ostforschung insbesondere zu Themen der deutsch-polnischen Geschichte publizierten. Zum Abschluss der Arbeit werden die Schicksale der polnischen und ukrainischen Archivalien sowie Archivbediensteten und insbesondere die Nachkriegskarrieren deutscher Archivare und ihre Reflexionen über ihr Wirken im Osten dargestellt.
Aufgrund der längeren Existenz und der intensiveren personellen Besetzung liegt der Schwerpunkt der Untersuchung auf dem Beispiel des Generalgouvernements. Im besonderen Fokus der preußischen Archivverwaltung stand aber auch wegen der engen historischen Verbindungen und der besonderen Aktivitäten der deutschen Ostforscher Polen. In beiden Weltkriegen bildeten die Rückforderung und der Erwerb von Archivalien die herausragenden Ziele der preußischen Archivare. Während man im Ersten Weltkrieg sich noch an das Völkerrecht und an internationale Grundsätze gebunden fühlte, so ignorierten die deutschen Archivare diese im Zweiten Weltkrieg und beachteten auch den Standpunkt der polnischen Kollegen nicht. Allerdings gab es auch im Ersten Weltkrieg keinen ausgeglichenen Tausch. Die deutschen Argumentationen, die während des Nationalsozialismus als reine Feigenblätter fungierten, schwankten je nach Bedarf zwischen Provenienz- (Herkunft) und Pertinenzprinzip (Sachprinzip).
Ebenso konnten nach 1914 die Polen ihre eigenen Forschungen betreiben, was nach 1939 nicht mehr möglich war. Die polnische historische Forschung wurde im Zweiten Weltkrieg von den deutschen Archivaren nur sehr selektiv wahrgenommen - zumeist dann, wenn man sie widerlegen wollte. Inhaltlich - so Lehr - ist der Erkenntnisgewinn der archivarischen Ostforschung aus heutiger Sicht als gering einzustufen. Die meisten Archivare des späteren "Osteinsatzes" hatten sich selbst den nationalsozialistischen Zielsetzungen angepasst; einige traten der NSDAP bei. Sie begrüßten die Eroberung des Landes im Zweiten Weltkrieg ebenso wie die Unterbindung der polnischen Wissenschaft. Ihre antipolnische Einstellung war ein wichtiges Argument für ihren Einsatz im Osten. Neben den Karrierechancen waren auch die Möglichkeiten im Bereich der Ostforschung für sie ein Grund ihres Engagements. Es ging ihnen zumeist nicht um den Schutz von Archivalien in der Kriegszeit, sondern um den Aufbau eigener deutscher Archivverwaltungen in den besetzten Ländern mit einer Ausrichtung an deutschen Interessen. Die polnischen und ukrainischen Archivarinnen und Archivare wären, wenn sie von den deutschen Besatzern die Möglichkeit erhalten hätte, in der Lage gewesen, ihre Archive selbst zu verwalten.
Lehr kommt in personeller Hinsicht zu dem Ergebnis, dass die Parteimitgliedschaft der deutschen Archivare wenig über ihr tatsächliches Verhalten vor Ort aussagt. Das nationalsozialistische Engagement war vielfältig: Einige besuchten Konzentrationslager, um sich um jüdisches Schriftgut zu kümmern. Zum Teil gab es eine enge Zusammenarbeit mit dem Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg, der die Unterlagen vermeintlicher Gegner auswertete. Fachliche Grundsätze wurden dabei hinter politische Zielsetzungen zurückgestellt.
Nach Kriegsende wurden die verlagerten Archivbestände wieder an die ursprünglichen Lagerorte zurückgegeben. So erhielt Polen in den 1960er-Jahren von der DDR den größten Teil der im ,,Dritten Reich" abtransportierten Unterlagen zurück. Das Denken vieler im Osteinsatz tätiger Archivare blieb auch in der Nachkriegszeit ,,deutschnational" geprägt. Sie behaupteten, ihre Tätigkeit hätte den jeweiligen Ländern genützt, obwohl sie selbst ausschließlich nationalen Interessen verpflichtet waren. Ihre Entnazifizierung verlief weitgehend problemlos und bildete kein Karrierehindernis. In personeller Hinsicht, so resümiert Lehr, verläuft im Archivwesen eine Kontinuitätslinie von der Weimarer Republik über den Nationalsozialismus in die Bundesrepublik. Auch auf dem Gebiet der Ostforschung betont er die Kontinuität. Die Archivare sind dem Wandel zu einer modernen Sozial- und Strukturgeschichte, den einige in der Ostforschung engagierte Historiker wie Theodor Schieder und Werner Conze vollzogen haben, nicht gefolgt.
Sehr nützlich ist der Anhang mit den Dienstorten deutscher Archivare im Generalgouvernement und im Reichskommissariat Ukraine, dem Verzeichnis polnischer sowie ukrainischer Archivare und Archivarinnen und Übersichten zu deutschen Archiv- und Aktenverlagerungen. Das Personenregister enthält dankenswerterweise Lebensjahre und Funktionsangaben, ein Ortsindex erleichtert den geografischen Zugriff auf diese nicht nur für die Archivgeschichte wichtige Darstellung. Die Schriftenreihe des Bundesarchivs erweist sich mit dieser gelungenen Darstellung erneut als Publikationsort wichtiger Beiträge zur kritischen Auseinandersetzung mit der jüngeren Geschichts- und Archivwissenschaft.
Rainer Hering, Hamburg