Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Sérgio Costa, Vom Nordatlantik zum 'Black Atlantic'. Postkoloniale Konfigurationen und Paradoxien transnationaler Politik, Transcript Verlag, Bielefeld 2007, 290 S., brosch., 28,80 €.
Costas Habilitationsschrift ist komplex konzipiert. Sie versteht sich als Beitrag zur ,,Soziologie transnationaler Prozesse" (S. 10), der theoretische ,,Kosmopolitismus-Konzepte" (S. 14) durch eine ,,Fallstudie zum Rassismus und Antirassismus in Brasilien" (S. 17) prüfen will. Außerdem möchte der Autor die brasilianische Debatte, deren unterschiedliche Vertreter ,,die transnationale Einbindung ihres Diskussionsgegenstandes [...] verkennen" (S. 11), mit den theoretischen Überlegungen und den aus ihnen abgeleiteten, weiterführenden Erkenntnissen konfrontieren (S. 17).
Diesem Vorhaben entsprechend gliedert sich die Arbeit in zwei Hauptteile, deren Bezug allerdings nicht durchgehend zwingend ist. Dabei enthält der erste Abschnitt die als Theorieteil hypertrophe und als methodische Studie verkürzte Auseinandersetzung mit ausgewählten Globalisierungsreflexionen. Dass angesichts des gewählten Untersuchungsmaterials der Ansatz von Jürgen Habermas wegen der ,,eurozentrischen Züge seines Menschenrechtsplädoyers" (S. 38) ebenso verworfen wird wie die Vorstellungen einer ,,reflexiven Globalisierung" bei Anthony Giddens und Ulrich Beck (S. 86), verwundert in diesem Zusammenhang ebenso wenig wie die positive Würdigung postkolonialer Überlegungen wie der ,,Konzeption des dezentrierten Subjekts" von Stuart Hall oder Paul Gilroys ,,Prägung" der ,,Idee eines Black Atlantic" [Hervorhebung im Orig.](S. 128).
Unverständlich hingegen bleibt, weshalb eine Studie, die ,,die Transnationalisierung des Antirassismus" (S. 142) am Beispiel Brasiliens diskutieren will, keine rassismusanalytischen Überlegungen enthält und sich mit einer verkürzten Rassismusdefinition (S. 9, 244) begnügt, die sich auf die negative Bewertung zugeschriebener körperlicher Rassenmerkmale beschränkt. Das führt gleich zu Beginn des historischen Teils der Arbeit zur Ausbreitung zweier ,,Episoden", zu denen es heißt, sie sollten ,,nicht gründlich analysiert werden" (S. 147). Tatsächlich werden sie, obwohl sie für die Untersuchung nicht ohne Aussagekraft gewesen wären, überhaupt nicht analysiert. Beide verweisen darauf, dass Rassismus ein soziales Verhältnis ist, das auch ohne Rassen auskommen kann.
Das gilt auch für den Rassismus in Brasilien. Er entwickelte sich nicht nur lange vor der Herausbildung des Rassenbegriffs, sondern richtete sich nach dessen ideologischer und wissenschaftlicher Durchsetzung auch gegen Juden und spielte eine Rolle im eugenisch unterlegten Einwanderungsdiskurs. Die Einsicht in solche Vielschichtigkeit wird durch Costas Darstellung erschwert, weil der zweite Abschnitt seiner Arbeit historisch mehrfach neu ansetzt und zunächst mit der ,,Erfindung der Mestiçagem" [Hervorhebung im Original](S. 148) beginnt. Erst anschließend werden ,,[d]er wissenschaftliche Rassismus und seine Rezeption in Brasilien" (S. 177) behandelt. Dabei wird einerseits die Chance vergeben, darauf hinzuweisen, dass nicht nur der aktuelle antirassistische Diskurs eine transnationale Perspektive hat, sondern dass schon die Entwicklung und Durchsetzung des Rassenrassismus selbst ein transnationales Projekt war. Andererseits wird zwar der umkämpfte Übergang vom ,,branqueamento", der auf die 'Weißmachung' Brasiliens abzielenden Politik, zum ,,mestiçagem", der die 'Rassenmischung' propagierenden Politik, deutlich gemacht. Dabei bleibt aber die Frage nach dem rassistischen Gehalt der ,,democracia racial" ausgeblendet. Die in ihrem Rahmen entwickelte ,,pigmentocracy" (1) verweist darauf, dass sie noch nicht einmal den biologischen Rassismus überwand, geschweige denn auf kulturalistischen Rassismus verzichtet hätte.
Die anschließende Konzentration der Darstellung Costas auf die ,,Schwarzenbewegung" (S. 158) ist nicht unproblematisch. Zwar deutet er selbst an, dass ,,[a]uch bei der indigenen Bevölkerung [...] Ethnisierungstendenzen zu sehen" wären (S. 157). Er setzt sich aber nicht weiter damit auseinander, inwieweit es seine Fragestellung tangiert, wenn diese nicht zuletzt durch eine staatliche Politik motiviert werden, während die von ihm diskutierten ,,Reafrikanisierungstendenzen" (S. 158) mit ihrer Propagierung einer ,,cultura negra" und ,,identitade negra" (S. 168) unter anderem auf die Beeinflussung staatlicher Politik abzielen. (2)
Da das historische Material bruchstückhaft ausgebreitet wird und Costa verschiedene Reduktionen nicht nachvollziehbar begründet, bleibt der angemeldete theoretische Anspruch Programm. Zwar kann die im Titel der Arbeit formulierte Bewegung ,,Vom Nordatlantik zum 'Black Atlantic'" durch die Abschnitte über die brasilianische Rezeption des wissenschaftlichen Rassismus (S. 177-222) und der ,,racial studies" (S. 223-258) plausibel gemacht werden. Sie fallen aber zu unsystematisch aus und bleiben insgesamt so kursorisch, um als überzeugender Nachweis dafür zu gelten, dass ein Teil der antirassistischen Bewegung in Brasilien den ,,Antirassismus in anderen Ländern [...] kopieren" und ,,Identitäten aufgrund internationaler antirassistischer Erfahrungen erfinde[n]" (S. 257) würde. Die abschließend gegenüber den ,,racial studies" vorgetragene Kritik, sie versuchten, ,,dem Antirassismus eine 'richtige' Erscheinungsform zu verschreiben und alle anderen Identifikationsformen zu desavouieren" (S. 261), bleibt deswegen hypothetisch.
Wulf D. Hund, Hamburg
Fußnoten:
1 Livio Sansone, Blackness Without Ethnicity. Constructing Race in Brazil, New York etc. 2003, S. 43. Auch die eugenische Debatte ging in der `Rassendemokratie' weiter, vgl. Nancy Leys Stepan, `The Hour of Eugenics'. Race, Gender, and Nation in Latin America, Ithaca etc. 1991, S. 168. Im Übrigen benennt Costa mit Sylvio Romeros ,,These von der `mestiçagem branqueadora'" (S. 203) selbst ein Konstrukt, das in der Rassendemokratie zwar als politisches Ideal zurückgewiesen wurde, als soziales Orientierungsmuster aber durchaus weiter eine Rolle spielte. Vgl. Edward E. Telles, Race in Another America. The Significance of Skin Color in Brasil, Princeton etc. 2004.
2 Ganz nebenbei hätte dabei auch noch einmal die Vorstellung überprüft werden können, inwieweit `raça' in der Zeit der Rassendemokratie zu einem ,,politikunfähigen Begriff" wurde und ob sie ,,[i]n der gegenwärtigen Prägung [...] keinen biologischen Determinismus mehr" beinhaltet (S. 155f.). Vor noch nicht allzu langer Zeit klangen jedenfalls die Prüfkriterien der FUNAI (Fundação Nacional do Índio) für den Indigenenstatus deutlich anders - vgl. Alcida Rita Ramos, Indigenism. Ethnic Politics in Brazil, University of Wisconsin Press, Madison etc. 1998, S. 249. Auch in aktuellen ,,Quotenprogrammen", auf die Costa selbst hinweist, gibt es nach wie vor vergleichbare Elemente, die nach ,,Phänotyp" und ,,Abstammung" fragen (S. 173f., Fn.).