ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Sigmar Schmidt/Gunter Hellmann/Reinhard Wolf (Hrsg.), Handbuch zur deutschen Außenpolitik, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2007, 968 S., geb., 59,90 €.

Internationale Geschichte gerät in der Geschichtswissenschaft in den letzten Jahren ein wenig in den Hintergrund, zumal wenn es sich um Staatenpolitik oder Interaktionen der offiziellen Staatsorgane handelt, nicht jedoch wenn es um kulturelle Begegnungen, Transfer, Vergleich oder verflochtene Geschichte handelt. In der Politikwissenschaft, die oft dichter an der aktuellen Politik und an deren Beratung orientiert ist, gilt anderes. In diesem Kontext ist auch das vorliegende ,,Handbuch" zu sehen. Die Herausgeber, allesamt Professoren der Disziplin Politikwissenschaft, haben Recht: Es gibt bislang nur einen Vorläufer ihres Vorhabens in diesem Lande, das ,,Handbuch der deutschen Außenpolitik", das Hans-Peter Schwarz 1975 bei Piper mit 849 S. herausgab. Jetzt schreibt eine neue Generation an dem Thema; so hätte nur Werner Link, der im jetzigen Werk einen profunden Essay über den Zusammenhang zwischen der Überwindung von europäischer Spaltung und transatlantischen Beziehungen beisteuert, damals schon dabei sein können. Was die heutigen ca. 50 Autoren bei größerem Format und damit ca. doppeltem Umfang gegenüber 1975 liefern, geht auf mehrjährige Vorarbeiten zurück. Bestens ausgewiesene Spezialisten haben die Artikel geschrieben. Allerdings gibt es leider keinen Hintergrund für die Beiträger, die gelegentlich wohl auch aus der Praxis kommen, da sie mit geringem Abstand von ihren Tätigkeitsfeldern über diese selbst berichten.

Im Kern geht es in den Beiträgen um den Zeitraum seit dem Mauerfall 1989 bis zur Gegenwart, was dennoch auch zu für Historiker beachtlichen Rückblenden führt. Die letzte Aktualisierung reicht in den April 2006, also in die Regierung Merkel/Steinmeier hinein, manche Autoren sind in der Zeit Schröder/Fischer stecken geblieben. Die wichtigste Einschränkung bedeutet der Außenpolitik-Begriff, der ganz zentral auf deren Praxis abzielt (S. 16), also den Horizont der Akteure, ihre Rahmenbedingungen und Handlungen umfasst. Demgemäß sind methodische Überlegungen sowie Gedanken zum internationalen System als solches insgesamt wenig ausgeprägt; allein ein hinten angehängter Beitrag (Kapitel VIII) von Dirk Peters zur ,,Außenpolitikanalyse" liefert auf 22 S. einen solchen Überblick, der so eine salvatorische Funktion erhält.

Die Herausgeber beginnen mit einem historischen Rückblick, der bis auf die Reichsgründung zurück reicht. Gerade hier zeigt sich leider die immer noch geringe Berücksichtigung fachhistorischer Forschung, wenn etwa für das Deutsche Kaiserreich allein der hervorragend ausgewiesene Klaus Hildebrand als Gewährsmann gilt, und daneben die ihrerseits bilanzierenden Thomas Nipperdey und Volker Ullrich nochmals kondensiert werden. Das setzt sich für die nachfolgenden Epochen fort, wenn etwa für die alte BRD immerhin ausgewiesene Autoren der älteren Generation, die zugleich Politologen und Historiker waren, herangezogen werden (Helga Haftendorn, Wolfram F. Hanrieder, aber auch Christian Hacke und Hans-Peter Schwarz). Wenn Gregor Schöllgen als Gewährsperson gilt, wird ihm das Prädikat ,,Historiker" beigegeben, wohl um damit zu sagen, dass er kein (zunftgemäßer) Politikwissenschaftler sei. Geradezu skandalös wird der Artikel, wenn die beiden Weltkriege schlicht als Gegenstand von Außenpolitik ausgeblendet werden, als ob während militärischer Auseinandersetzungen keine ,,Außenpolitik" stattgefunden habe: Genau dies gab es doch in den jeweiligen Kriegskoalitionen, in deren Beziehungen zu den ,,Neutralen" und natürlich bedeutete Krieg selbst auch eine Fortsetzung von Außenpolitik mit anderen Mitteln. Ein solcher konzeptueller Fehler lässt sich nur aus der Ruhelage der Zeit nach dem Kalten Krieg verstehen, obwohl doch im Band selbst die jüngsten kriegerischen Konflikte und die Rolle Deutschlands durchaus angemessen einbezogen werden. In diesem Einleitungsartikel - wie später noch häufiger - wird die Debatte über einen grundlegend neuen Ansatz der BRD nach 1989/90 unaufgeregt als konzeptionelle Auseinandersetzung, dann auch reale Außenpolitik eher negativ entschieden; abweichende Meinungen werden genannt.

Vier Artikel liefern im (Teil II) "Konzepte" eher kluge großflächige Essays, wobei Rainer Baumann bei A.H.L. Heeren von 1816 mit dem Begriff der ,,Zentralmacht" ansetzt, während Michael Staack an einen eigenen Buchtitel ,,Handelsstaat" anknüpft, aber merkwürdigerweise diesen Begriff von Richard Rosecrance 1986 aus dem amerikanischen rückentlehnt, als ob es Friedrich List oder Werner Sombart nie gegeben hätte. Kapitel III "Rahmenbedingungen" bündelt vier Aufsätze: Birgit Schwelling thematisiert die - abnehmende - Bedeutung der ,,deutsche[n] Vergangenheit" - gemeint ist die NS-Zeit, Werner Weidenfeld gibt einen eher faktografischen Überblick über den ,,Zwei-plus-Vier"-Vertrag; Werner Link wurde bereits genannt, während in Wolfgang Wagners Überblick zur Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU eben diese europäische Integration wie insgesamt in diesem Band dem Faktor Europa ein zu geringer Raum gegeben sein dürfte. Ausgezeichnet und informativ sind die Abschnitte (IV) über Institutionen und innerstaatliche Akteure sowie (V) über die Beziehungen Deutschlands zu einzelnen Staaten und Regionen. Gerade das innerstaatliche Instrumentarium wird über die Ministerien und Parlamente erfreulich erweitert bis hin zu politischen Stiftungen, Wirtschaft und Gewerkschaften, Kirchen und NGOs sowie Politikberatung (fast eine Adressensammlung). Bei öffentlicher Meinung (Hans Rattinger) driftet die Argumentation eher ins Beliebige, was man bei Medien (Ulrich Sarcinelli und Marcus Menzel) nicht sagen kann. Erfreulicherweise schreibt bei den Staaten der Amerikaner Stephen F. Szabo den Artikel über die USA (allein hier wird ein zweiter zu den Wirtschaftsbeziehungen nachgeschoben), William Paterson/James Sloam über Großbritannien - und über Russland die amerikanische Professorin Angela Stent. Gerade die Artikel über die außereuropäischen Beziehungen bündeln hervorragend Informationen. Was sich die Herausgeber allerdings dabei gedacht haben, dass ausgerechnet bis auf Frankreich und Großbritannien das gesamte Europa der Integration bis 1989 fehlt, ist deren Geheimnis: nichts über Italien, die iberische Halbinsel, Benelux und Skandinavien! Wenn da nicht nur Autoren ausgefallen sind, sondern die europäische Integration als solche ja schon zuvor und danach (Josef Janning über die EU) behandelt worden sein sollte, ist das schlichtweg falsch und nicht zu akzeptieren.

Zu den Politikfeldern (Teil VI) sind Erweiterungen zu vermelden: Hier gibt es Hergebrachtes wie Sicherheit (vorzüglich Gunther Hellmann), Außenwirtschaft und Finanzen, aber auch relativ neue Gebiete wie Kriminalität/Terrorismus, Menschenrechte, Entwicklung, Migration und Flüchtlinge. Das ist sehr zu begrüßen. Schließlich finden auch die internationalen Organisationen ihren Platz (Teil VII). Hier sticht Manfred Knapp mit einem längeren Essay zur UN-Politik hervor, der auch historische Tiefenschärfe enthält; NATO, OSZE, WTO und die G7/G8-Gruppe folgen.

Blickt man auf die Anlage des gesamten Bandes zurück, so ist es schlüssig, dass erst die jüngste Zeitgeschichte seit dem Mauerfall im Fokus steht. Der Historiker freut sich jedoch, wenn - über Genanntes hinaus - Rückgriffe auf die alte Bundesrepublik vorgenommen werden, so etwa bei NATO (Johannes Varwick), Israel, Frankreich und Außenwirtschaftspolitik. Eine höchst problematische Setzung muss allerdings erwähnt werden: Hatte Schwarz` Handbuch von 1975 immerhin noch einen 35-seitigen Essay über die Außenpolitik der DDR angefügt, so sieht es hier so aus, als ob es den zweiten deutschen Staat nie gegeben hätte. Die ,Siegerperspektive' von 1989/90 fällt, zumal bei den institutionellen Beiträgen, aber auch bei den Politikfeldern auf. Auch wenn die DDR im hier zentralen Untersuchungszeitraum nicht mehr bestand, hätte ein eigener Artikel dieser Problematik gut getan.

Knappe Literaturhinweise begleiten die einzelnen Einträge, 68 Seiten an Gesamtliteraturverzeichnis ist zwar nützlich, vielleicht aber ein bisschen viel des Guten; das Gleiche lässt sich für 43 Seiten Chronologie seit 1989 sagen. Bei aller Kritik im Einzelnen lässt sich jedoch resümieren, dass hier ein ganz überwiegend gelungenes, in Zukunft auch für Historiker wichtiges Nachschlag- und Arbeitsbuch entstanden ist, das über einen praxisnahen Zugang verfügt, ohne Jargon geschrieben ist und somit für ein breites Publikum, nicht zuletzt auch Historiker, nützlich sein dürfte.

Jost Dülffer, Köln


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