ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Rainer Hering/Rainer Nicolaysen (Hrsg.), Lebendige Sozialgeschichte. Gedenkschrift für Peter Borowsky, Westdeutscher Verlag, Wiesbaden 2003, 827 S., 19 Abb., 8 Tab., geb., 49,90 €.

Eine Festschrift zum 65. Geburtstag des Hamburger Historikers Peter Borowsky sollte der vorliegende Band werden. Der überraschende, frühe Tod des zu Ehrenden im Jahre 2000 im Alter von nur 62 Jahren erzwang jedoch einen anderen Weg. Die 47 Autorinnen und Autoren des Buchesvereinigten sich am 4. Juni 2003 zu einer Veranstaltung zum Gedenken an den großen Lehrer, markanten, engagierten Kollegen und beliebten Freund in der Universität Hamburg. Die zu Ehren des Verstorbenen gesammelten wissenschaftlichen Beiträge wurden nunmehr als Gedenkschrift präsentiert. Der 827 Seiten umfassende Band ist in zwölf Teile gegliedert, beginnend mit einer Einleitung der Herausgeber (S. 11-19) und einem der Lebensleistung Peter Borowskys gewidmeten zweiten Teil (S. 23-73). Darauf folgt ein Abschnitt über Theorie (III: S. 77-143). In den sechs darauf folgenden Teilen geht es um die Geschlechtergeschichte (IV: S. 147-220), das Deutsche Kaiserreich (V: S. 223-258), die Weimarer Republik (VI: S. 261-397), das Dritte Reich (VII: S. 401-435), Deutschland nach 1945 (VIII: S. 439-483), die Hamburgische Geschichte (IX: S. 487-540) und schließlich die europäische Geschichte (X: S. 543-612). In den beiden letzten Teilen wird die Wissenschafts- und Hochschulgeschichte (XI: S. 615-707) thematisiert und das Thema Kultur behandelt (XII: S. 711-792). Ein vorbildlich gestalteter Anhang (S. 795-827) vereinigt u.a. eine vollständige Bibliografie und eine Übersicht über die Lehrveranstaltungen Peter Borowskys in Hamburg und Massachusetts von 1969 bis 2000. Die Herausgeber wollten, wie sie betonen, durch eine spannende Lektüre ,,Lust auf Geschichte" machen. Im Folgenden sollen daher die Beiträge herausgehoben werden, die dieser Zielsetzung in besonderem Maße entsprechen. Interessierte Leser werden sich selbst fragen, was eigentlich ,,Geschichte" ist und von welchen anthropologischen Voraussetzungen geschichtliche Darstellungen und ihr Objekt, soziale Gruppen und ihr Handeln ausgehen. Während Joachim Molthagen (Teil III) die Impulse aufzeigt, die vom antiken Griechenland und biblischen Israel zu den heutigen Fragestellungen geführt haben, stellt Hans-Werner Goetz in neun Thesen die historische Fragestellung selbst in den Mittelpunkt seiner Überlegungen, u.a. die historischen Fragen ,,spiegeln in der Gesamtheit [...] die Interessen eines Zeitalters wider". Geschichte ist demnach eine Konstruktion des Vergangenen gemäß den Fragestellungen, die sich aus den geistigen Bedürfnissen und Interessen der jeweiligen Gegenwart ergeben (S. 94/95). Dass diese Bedürfnisse und Interessen methodisch eingegrenzt werden müssen und nicht modischer Beliebigkeit ausgesetzt sein dürfen, macht Rainer Unruh dadurch plausibel, dass er der These des amerikanischen Historikers und Literaturwissenschaftlers Hayden White widerspricht, Geschichtsschreibung sei im Wesentlichen Literatur und folge poetischen Kategorien und Metaphern (S. 121-143). Dass die Methoden und Kategorien, mit denen geschichtliche Kenntnisse gewonnen werden, selbst der Kritik ausgesetzt sind, verdeutlicht Bernd-Ulrich Hergemöller. Er beleuchtet und kritisiert die traditionelle ,,Maskulinität" historischer Darstellungen (S. 166). Die außenpolitisch orientierten Untersuchungen des sechsten Teils kreisen um die Entstehung und den Begriff des ,,Totalen Krieges" und seiner Akteure: Gespräche mit Peter Borowsky inspirierten den amerikanischen Historiker Roger Chickering zu einer Studie über Erich Ludendorff (S. 1865-1937), den Borowsky als ,,Inkarnation des alten, unverhüllt und brutal auftretenden Imperialismus" gekennzeichnet hatte und dessen lebenslanger Drang nach Selbstrechtfertigung zum Leitmotiv seines Handelns und Schreibens wurde. Bernd Jürgen Wendt untersucht die Entstehungsgeschichte des Leitbegriffs ,,Totaler Krieg" und bezieht sich dabei auf einen deutsch-ungarischen Historikerkongress des Jahres 1992, den Peter Borowsky maßgeblich mitgestaltete. Indem die Deutung des Krieges und der ,,harten und unwirtlichen Welt, in der wir leben" durch Zeitgenossen nachgeht, zeigt Klemens von Klemperer die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Max Weber (S. 1864-1920) und Oswald Spengler (S. 1880-1936) und kontrastiert den ,,Verantwortungsethiker" mit dem ,,Magier". Soziale Lebensformen von Minderheiten, die von der Moral der Mehrheitsbevölkerung abgelehnt werden, thematisiert Klaus Saul mit der offiziell bekämpften Lebensform der ,,Wilden Ehen", durch die besonders in ländlichen Gebieten mit intensiver sozialer Kotrolle Menschen des proletarischen Milieus zu einem ,,Leben in Lüge und Unsicherheit" gezwungen wurden (S. 223-258); durch Stefan Micheler die Minderheit der Homosexuellen, an deren Diskriminierung und Verfolgung durch die staatlichen Organe des Nationalsozialismus sich die Bevölkerung durch Gerüchte, Tratsch und Denunziationen aktiv beteiligte (S. 417-437). In den Mittelpunkt der ,,mentalen Wende" der Bundesrepublik Deutschland im Zusammenhang mit der 68er Bewegung stellt Knud Andresen in Teil VIII die als ,,Antizionismus" propagierten, angeblich objektiven, antijüdischen Aktionen der Neuen Linken: Israel und seine Politik dienten als ,,Projektionsfläche für tiefer gehende und weiterreichende Einstellungen". Die ,,Zerschlagung des zionistischen Staates" war für diese Theoretiker Vorbedingung für ein gleichberechtigtes Miteinander von Juden und Palästinensern im Sozialismus (S. 464-485). Die Untersuchung von Kontinuität und Wandel als eines wesentlichen Elementes der Geschichte in den Teilen IX bis XII steht in einem thematischen Zusammenhang mit den von Hans-Werner Goetz (III) aufgestellten neun Thesen zur historischen Fragestellung: Die traditionelle Formel von ,,Hamburg, Tor zur Welt" überdauerte das Kriegsende und trug in der Nachkriegszeit über den Film zur Legendenbildung bei: In Hamburg war vermeintlich alles anders. Ulrich Prehn erweist sich mit seinem Beitrag über frühe auf Hamburg bezogene Filmdokumente der Nachkriegszeit als subtiler Kenner dieses Mediums und verdeutlicht zugleich den Stellenwert von Filmproduktionen als historische Quellen. Frühe Nachkriegsfilme stilisierten den Durchschnittsdeutschen als Opfer des Krieges und seiner Folgen. Das Aufzeigen von Kontinuität und Wandel in der personalen Führung der Hamburger Evangelischen Akademie Hamburg ist das Anliegen von Lisa Strübel, deren 2005 erschienene Untersuchung über die Lutherische Kirche in Hamburg das hier behandelte Thema in einen größeren Zusammenhang stellt: Alle leitenden Personen der Akademie in der Nachkriegszeit hatten sich weitgehend mit den von der Kirche vertretenen unchristlichen Auffassungen des Nationalsozialismus identifiziert. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte der eigenen ,,Zunft", dem Historischen Seminar der Universität Hamburg, und den hier erkennbaren Kontinuitäten nehmen jeweils Rainer Nicolaysen und Jakob Michelsen vor: Ohne nennenswerten Widerstand seiner Kollegen wurde 1933/34 der prominente und bei seinen Studenten geschätzte Osteuropa-Historiker Richard Salomon aus der Fakultät ausgeschlossen. Einen Hamburg-Bezug besonderer Art stellt der in den Band aufgenommene Fachvortrag anlässlich der Gedenkveranstaltung dar, den der in den USA lehrende Freund und Kollege Peter Borowskys, Hans Rudolf Vaget, zum Thema ,,Thomas Mann und das Hanseatentum" hielt (S. 735-747): Hamburg und Bremen stellten für den Autor der Buddenbrooks eine Bedrohung seiner Heimatstadt Lübeck dar. Generell jedoch kennzeichnen Unternehmungsgeist, Arbeitsethos, republikanischer Freiheitssinn und Verantwortung gegenüber dem Gemeinwohl sämtliche ,,hanseatischen" Figuren Thomas Manns, Kriterien, denen die real existierenden Hanseaten des ,,Dritten Reiches" nicht zu genügen vermochten. Ein wesentlicher Teil der Gedenkschrift sind die auf die Einleitung folgenden Würdigungen über Peter Borowsky, beginnend mit einem humorvollen Dia-Clip zu seinem 60. Geburtstag. Borowskys Kolleginnen und Kollegen Barbara Vogel, Heide Wunder und Eckart Krause geben Auskunft über Borowskys Engagement, der nach dem Einschnitt der 68er entscheidend daran beteiligt war, das Studium der Geschichte zu verändern und damit neu zu fundieren. Als Vorsitzender der Studienreformkommission, der geschickt zwischen den Polen Studenten und Ordinarienprofessoren zu agieren verstand, initiierte der junge Wissenschaftler, wenn auch ohne bleibenden Erfolg, das semesterübergreifende ,,Projektstudium" als ,,forschendes Lernen". In seinen Einführungsschriften für Studienanfänger verdeutlichte er die Vielschichtigkeit des Begriffs ,,Geschichte" als einer sozialwissenschaftlichen Disziplin. Dass Wissenschaft auch mit ,,Wissen" zu tun hat, war für Borowsky ein unverzichtbarer Grundsatz, er vertrat ihn mit einem ausgeprägten Sinn für Distanz und Nähe im Umgang zwischen Lehrenden und Lernenden.

Uwe Schmidt, Hamburg


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