ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Arnold Angenendt, Toleranz und Gewalt. Das Christentum zwischen Bibel und Schwert, Aschendorff Verlag, Münster 2006, 799 S., geb., 24,80 €.

Der Anlass für dieses Buch datiert noch vor den 11. Sept. 2001 - das Zäsurdatum, das der Thematik von Religion und Gewalt eine neue weltpolitische Dimension eröffnet hat. Ein Jahr zuvor hatte der Philosoph Herbert Schnädelbach in der Wochenzeitung ,,Die ZEIT" eine Art Philippika gegen das Christentum geschrieben. Er hielt der ,,altgewordenen" Religion ihre immanenten ,,Todsünden" vor und forderte die Abschaffung des Christentums. Diese Provokation verfehlte ihre Wirkung nicht und einer der renommiertesten Kirchenhistoriker Deutschlands, der 1999 in Münster emeritierte Arnold Angenendt, griff zur Feder. Seine Erwiderung auf Schnädelbach ist ungleich voluminöser ausgefallen als die Attacke selbst; auf knapp 800 Seiten findet der Leser einen Gang durch Jahrtausende Religions-, Geistes- und Kirchengeschichte, aufbereitet nach verschiedenen Schwerpunktfragen und gespickt mit interdisziplinären Exkursen in zahlreiche weitere Fächer, wie z.B. Ethnologie, Psychologie und Soziologie.

Der Autor hat sein Werk in fünf Teilen angelegt, die in sich abgeschlossen als eigene Bücher gelesen werden können. Im ersten und gleichzeitig kürzesten Teil ,,Toleranz und Gewalt als menschliche Erstaufgabe" beschäftigt sich Angenendt mit anthropologischen und kulturtheoretischen Fragen der vorgeschichtlichen Entwicklung menschlicher Gesellschaften. Man bekommt nützliche Kategorien an die Hand, die einen differenzierten Blick auf die immer wieder in den Mittelpunkt gerückten Phänomene von Gewalt und Toleranz bzw. ihr Verhältnis zueinander ermöglichen. Es geht um die Unterscheidung von ,violentia' (Willkürgewalt) und ,potestas/auctoritas' (Schutzgewalt) sowie ,ingroup'- und ,outgroup'-Verhalten - um gewaltfreies Lebenlassen und gewaltbereiten Schutz nach außen, um kriegerische Konkurrenz als historischen Normalzustand von Clans, Stämmen oder Völkern und den Sonderfall fragiler Friedensphasen. Angenendt skizziert die korrespondierenden Entwicklungen von Vergesellschaftung und Religion, von primären Formen der religiösen ,Weltbeheimatung' bis hin zu Sekundärethiken, in denen Fragen der individuellen Lebensführung in den Fokus kommen. Wichtig für den Autor ist der Befund, dass man erst im 18. Jahrhundert von dem modernen individuellen Personenbewusstsein sprechen kann, das dem heutigen (westlichen) Diskurs zu Eigen ist. Dementsprechend fordert der Autor eine hohe Sensibilität für eine Bewertung der Geschichte aus ihren eigenen Voraussetzungen heraus. ,,Historisch gesehen ist es darum absurd, heutige Menschenrechts- und Toleranz-Vorstellungen schon vollständig in jeder früheren Epoche und ihren damaligen Gesellschaften erwarten zu wollen. [...] Spielräume von Toleranz und Gewalt lassen sich nur aus den vorgegebenen Zeitbedingungen heraus verstehen und beurteilen" (S. 82). Noch überzeugender wäre dies Argument, wenn der Autor es in seiner kritischen Auseinandersetzung mit der Aufklärung selbst berücksichtigt hätte (S. 67), denn hier geht Angenendt in eben der Weise mit Rousseau, Montesquieu und anderen ins Gericht, wie er es sich gegenüber der Geschichte von Christentum und Kirche zu verbitten sucht.

In den Teilen zwei bis vier kommen dann die Themen zur Sprache, die man in erster Linie erwartet: Verhältnis von Religion zu Staatsmacht und -recht, Menschenwürde, Frauen, Gewalt und Krieg, Mission sowie zu den sogenannten Ketzern. Die Hexenverfolgung, der Islam und die Kreuzzüge kommen natürlich ebenso ausführlich zur Sprache. Der fünfte Teil widmet sich dem Verhältnis von Christentum und Judentum. Angenendt verschweigt nichts aus dem Register der kirchengeschichtlichen Sünden und er ist viel zu sehr Wissenschaftler, als dass er nicht alles beim Namen zu nennen bemüht ist. Aber die Schattenseiten kirchlichen Wirkens werden in der Regel nur sehr komprimiert am Ende eines Kapitels beleuchtet, in dem er zuvor ausführlich würdigend die gleichzeitigen Verdienste und Errungenschaften entfaltet, mit denen das Christentum verbunden werden muss. So beispielsweise beim Thema Menschenrechte und Einsatz für Demokratie: Selbstverständlich kann der Autor - auch auf ,,neutrale" oder evangelische Historiker gestützt - ausführen, dass der Katholizismus ein vergleichsweise resistentes Milieu in der NS-Zeit darstellte und spätestens mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil eine weltweite Vorreiterrolle in Sachen Menschenrechte einnimmt. Zum Abschluss heißt es dann: ,,Als Einwand gegenüber dem Papsttum bleibt, dass es sich erst nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts zu positiver Bewertung der Menschenrechte und der Demokratie durchfand; oder dogmengeschichtlich betrachtet, dass es nicht einfach aus dem gesicherten Schatz allzeit verfügbarer Wahrheiten zu schöpfen vermochte." (S. 154). Eben diese beiläufig bemerkte Tatsache ist allerdings für zahlreiche Zeitgenossen genau ein Grund, eine ausgesprochen kritische oder doch zumindest entfremdete Position zur Kirche Gottes einzunehmen.

Geschichtswissenschaft - das wird in diesem Buch immer wieder deutlich - ist stets auch interessen- bzw. intentionsverhaftet. Die Perspektive des Autors ist dabei transparent und einzuordnen; Angenendt ist Priester der katholischen Kirche. Insofern kann man in diesem Buch einen sehr wichtigen Beitrag zur Bewertung der Geschichte des Christentums sehen. Denn neben dem einen Lichtspot, den Schnädelbach auf das Christentum geworfen hat, richtet Angenendt etliche Schweinwerfer mehr in die Geschichte, die er damit ein ganzes Stück weiter auszuleuchten vermag. Er führt Daten und Fakten ins Feld, die die vielen gerne gepflegten Geschichtsmythen über die bluttriefende Geschichte der Kirche - vom Umgang mit Andersgläubigen und Apostaten über Inquisition und Hexenverfolgung bis hin zur Stellung der Frau in Kirche und Gesellschaft - weitgehend entkräften. Allerdings kann sich der Leser weiterhin fragen, ob es plausibel ist, die Kirche dadurch zu exculpieren, indem man beispielsweise die Verbrechen des Hexenwahns vor allem der weltlichen Gerichtsbarkeit zuordnet; das mag ,,formaljuristisch" gehen, aber kann man denn in den Epochen der Vergangenheit davon ausgehen, dass die Sphären des Rechts und der Religion bzw. Kirchlichkeit derart trennscharf zu unterscheiden waren?

Das Buch ist auch deswegen empfehlenswert, weil es neben der historischen Arbeit immer wieder, aber wohl dosiert, die theologische Dimension im Blick behält - selbst wenn der christlich unbedarfte Leser mit den Exkursen zum trinitarischen Gottesbild möglicherweise überfordert ist. Gleichwohl ist aber gerade die Rückbindung der Kirchengeschichte an die übrigen theologischen Disziplinen der eigentliche Sprengstoff, den die Arbeit Angenendts birgt. So muss nämlich innertheologisch die Dogmatik Antworten finden auf die Frage nach der Leitung der Kirche im Heiligen Geist durch die Ämter, wenn der Autor zeigen kann, dass diese Leitung der Ämter immer wieder versagt hat.

Insgesamt hat der Autor ein ungemein wertvolles Buch vorgelegt, das dem interessierten Leser eine gewaltige, aber nicht erschlagende Fülle von historischem Wissen aufbereitet. Trotz des Gesamtumfangs und eines fehlenden Stichwortregisters (Literatur- und Personenverzeichnis sind vorhanden) lassen sich anhand des differenzierten Inhaltsverzeichnisses gezielt Informationen gewinnen. Gerade dem der Geschichte der Kirche kritisch gewogene Leser kann dieses Buch uneingeschränkt empfohlen werden - insbesondere den Journalisten großer Zeitungen und Magazine. Vielleicht ist es Zeit für eine nicht revisionistische, aber doch klischeefreien und wirklichkeitsnahen Diskussion und Beurteilung der Geschichte des Christentums und der Kirche.

Frank Buskotte, Osnabrück


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