ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Uki Goñi, Odessa. Die wahre Geschichte. Fluchthilfe für NS-Kriegsverbrecher. Verlag Assoziation A, Berlin 2006, 400 S., brosch., 22,00 €.

Heinz Schneppen, Odessa und das Vierte Reich. Mythen der Zeitgeschichte (Reihe ZeitgeschichteN, Bd. 3), Metropol Verlag, Berlin, 279 S., geb. , 2007, 19,00 €.

Der Historiker Heinz Schneppen, Botschafter a.D., arbeitete von 1960 bis 1996 im diplomatischen Dienst der Bundesrepublik. Im Rahmen seiner dienstlichen Aufenthalte in Lateinamerika stieß Heinz Schneppen auf die Spuren Eduard Roschmanns, der im nationalsozialistischen Deutschland Karriere gemacht hatte. Er war der letzte Kommandant des Rigaer Ghettos, verantwortlich für den Transport der zu diesem Zeitpunkt ca. 2.000-2.500 Juden und Jüdinnen des Ghettos in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz; die meisten dieser Deportierten wurden in Auschwitz ermordet. Eduard Roschmann gelang 1947 nach der Verhaftung durch die britischen Militärbehörden die Flucht. Über die Stationen Rom und Genua gelangte er nach Argentinien, wo er als Frederico Wegener unbehelligt lebte. Erst 1976 stellten die bundesdeutschen Behörden ein Auslieferungsgesuch, da er verdächtigt werde, ,,teils allein, teils gemeinschaftlich mit anderen handeln, Menschen vorsätzlich aus niedrigen Beweggründen (Rassenhaß) grausam getötet zu haben." Roschmann stellte sich nicht, stattdessen gelang ihm die Flucht nach Paraguay. Allerdings starb er am 10. August 1977 dort im Krankenhaus an einem Herzanfall.

Heinz Schneppen beschäftigt sich mit der Frage nach dem Entstehen der Mythen und Verschwörungstheorien ganz konkret im Zusammenhang mit den Fluchtrouten ehemaliger Nazis aus Europa nach Lateinamerika, insbesondere nach Argentinien. Existierte nach 1945 tatsächlich eine Geheimorganisation Odessa und war diese bereits vor der militärischen Niederlage des Dritten Reiches geplant? Hatte Peron bewusst ehemaligen Nazis Aufenthalt in Argentinien ermöglicht oder ging es ihm nur um das Wohl Argentiniens, das für den wirtschaftlichen Aufschwung dringend auf europäische Technologie angewiesen war?

Heinz Schneppen hält Odessa für einen Mythos. Seiner Ansicht nach gelang allen ehemaligen Nazis mehr oder weniger selbstständig, zumindest ohne Geheimorganisation im Hintergrund die Flucht vor Strafverfolgung. Er bestreitet jedoch nicht z.B. die bekannte Unterstützung durch den Vatikan in Person von Bischof Alois Hudal oder die einfachen Einbürgerungsmöglichkeiten in Argentinien.

Dem argentinischen Journalisten Uki Goñi, der ebenfalls zu ,,Odessa" ein Buch vorgelegt hat, wirft er ungenaue Quellenkritik, sachliche Fehler sowie Spekulation vor und beschuldigt ihn, zur Mythenbildung beizutragen. Allerdings belegt er diese Vorwürfe nicht. Tatsächlich kursierten bislang zum Thema Odessa (Organisation der ehemaligen SS-Angehörigen) eher anregende Phantasien wie der 1972 von Frederick Forsyth veröffentlichte Roman ,,Die Akte Odessa", als fundierte Forschung mit belegbaren Ergebnissen. Simon Wiesenthal meinte: ,,ODESSA war eine verschwörerische Geheimorganisation der SS, die dazu diente, Kriegsverbrecher aus Deutschland herauszuschleusen und nach Südamerika zu bringen." Goñi knüpft mit seiner Arbeit daran an. Er strickt weniger an dem Mythos Odessa, als er ihm konkret auf den Grund geht.

Der Journalist Goñi hat sich die Aufgabe gestellt, die Beziehungen zwischen Argentinien und dem nationalsozialistischem Deutschland näher zu untersuchen und dabei besonders die Fluchthilfe-Netzwerke der Nazis zu erforschen.

Der Journalist recherchierte für das vorliegende Buch mehrere Jahre lang akribisch in Archiven in Argentinien, den USA und Europa. Es gelang ihm, bislang unbekannte Quellen zu erschließen, zudem führte er zahlreiche Interviews mit Zeitzeugen. Er musste allerdings auch feststellen, dass viele möglicherweise aufschlussreiche Akten vernichtet bzw. geschwärzt worden waren. Unmittelbar nach der Veröffentlichung 2002 skandalisierte das Wiesenthal Center in New York öffentlich das Zurückhalten von relevanten, dem Autor bekannten Geheimakten. Immerhin gab die argentinische Einwanderungsbehörde daraufhin drei der beantragten 58 Dokumente heraus.

Das spannende Ergebnis Goñis unermüdlicher Arbeit ist ein erstes Standardwerk über die Fluchthilfe-Routen der Nazis. Dreh- und Angelpunkt war das mit den deutschen Faschisten sympathisierende Argentinien unter Peron. Mithilfe der bereitwilligen und äußerst praktischen Unterstützung des Vatikans unter Papst Pius XII. gelang es etlichen Kriegsverbrechern, sich der juristischen Verfolgung zu entziehen. So konnte Goñi im englischen Nationalarchiv in London einen Briefwechsel zwischen dem Vatikan und der britischen Regierung einsehen. Konkret bat das damalige Staatssekretariat des Vatikans im Namen des Papstes die Alliierten, vier kroatischen Kriegsverbrecher nicht aus alliierten Kriegsgefangenenlagern auszuweisen und nach Jugoslawien auszuliefern, wo sie für ihre begangenen Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden sollten. Die Gesuchten konnten mithilfe kroatischer Priester und des Vatikans entkommen.

Der kroatische Franziskaner-Geistliche Krunoslav Draganović gilt als Kopf der Nazi-Fluchthilfeorganisation. Wichtiger Mitorganisator und konkreter Fluchthelfer war der österreichische Bischof Alois Hudal. Mit seiner Hilfe konnte z. B. der erste Kommandant des Vernichtungslagers Sobibors und spätere Kommandant Treblinkas, Franz Stangl, entkommen. Am 30. Mai 1948 gelang Stangl die Flucht aus amerikanischer Gefangenschaft, er gelangte über Italien nach Damaskus. Von 1951 bis zu seiner Entdeckung im Jahre 1967 durch einen Überlebenden lebte er in Brasilien. Im Gegensatz zu anderen, die über die sogenannte Rattenlinie geflohen waren, wurde er zur Rechenschaft gezogen: 1970 wurde Franz Stangl in Düsseldorf wegen Beteiligung am Mord an mindestens 400.000 jüdischen Menschen zum Tode verurteilt, er starb 1971 in Haft.

Der Autor stellt mit seiner Veröffentlichung den 1999 veröffentlichten, von der argentinischen Regierung in Auftrag gegebenen Abschlussbericht über die Einreise von Nazis mehr als infrage. Im offiziellen Bericht werden 80 Kriegsverbrecher, die nach Argentinien entkamen, angeführt. Uki Goñi kann aber durch seine fundierte Recherche eine Zahl von mindestens 300 ehemaligen NS-Funktionären, darunter so schrecklich bekannte Namen wie der von Klaus Barbie, Adolf Eichmann, Josef Mengele, Erich Priebke, Josef Schwammberger und Gustav Wagner belegen. Dank dem kleinen Verlag Assoziation A liegt dieses Werk nun auch in deutscher Sprache vor und ermöglicht einen ernüchternden, gleichzeitig aufschlussreichen Einblick in die Geschehnisse nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges.

Der Autor kann aber noch einen weiteren Erfolg verbuchen: 2005 wurde durch die Regierung Kirchners endlich die Geheimanweisung, die jüdischen Menschen ab 1938 die Einreise nach Argentinien unmöglich gemacht und die sein Großvater umgesetzt hatte, öffentlich widerrufen. Bis zu diesem Zeitpunkt war sie noch in Kraft gewesen.

Raphaela Kula, Bielefeld


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