ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Karl Schneider, Zwischen allen Stühlen. Der Bremer Kaufmann Hans Hespe im Reserve-Polizeibataillon 105, Verlag Edition Temmen, Bremen 2007, 228 S., geb., 14,90 €.

Die Studie Karl Schneiders widmet sich der Biografie Hans Hespes, dessen Zeit im Reserve-Bataillon nur einige Seiten der Monografie ausmacht. Schneiders derzeitige Beschäftigung mit den Verbrechen des Bremer Polizeibataillons - eine Veröffentlichung dazu kündigt er an - gab den Ausschlag, sich eingehender dem eher ungewöhnlichen Werdegang Hespes zu widmen. (1) Der Autor hat dabei akribisch und detailliert recherchiert. Er besuchte allein 14 Archive in der Bundesrepublik, führte (mehrfach) Interviews mit Zeitgenossen und Nachkommen Hespes und konnte auf Selbstzeugnisse aus dessen Feder zurückgreifen. Weitgehend unterlässt er es, dessen Handeln vor allem zwischen 1939 und 1968 eindeutigen Motiven zuzuordnen. Interessant wäre es dennoch gewesen, wenn der Verfasser das Verhalten seines Protagonisten mit dem Konzept des ,,Eigen-Sinns" - einem zentralen Gesichtspunkt der Alltagsgeschichtsschreibung - zu erfassen versucht hätte. (2)Hans Hespes Schreiben an das Bundesministerium der Justiz im August 1964 war Grundlage für das Ermittlungsverfahren gegen ehemalige Angehörige des Reservepolizeibataillons 105, dem er ab März 1941 für ein Jahr angehört hatte. Mit besagter Einheit war Hespe im besetzten Baltikum stationiert gewesen. In Briefen, die an seine Gattin gerichtet waren, und in Nachkriegsschilderungen berichtete er zwar von Verbrechen des Bataillons an Juden und vermeintlichen Partisanen, hingegen nicht von seiner wahrscheinlichen Beteiligung. Stattdessen präsentierte er sich als passiver Beobachter. Gleichzeitig spiegeln die Briefe sein völkisch geprägtes Menschenbild wie seine Hochachtung vor Heinrich Himmler und Theodor Eicke, den Inspekteur der Konzentrationslager und Führer der SS-Wachmannschaften, wider.

1907 in Brake (Oldenburg) geboren, verlor Hans Hespe 1916 bei einem Segelunfall seine Eltern und beide Geschwister. Weitgehend auf sich gestellt vermochte er es, bis Ende der Dreißigerjahre eine florierende Kaffeerösterei in Bremen aufzubauen. Dieser Tätigkeit jedoch sollte er nach Kriegsende nicht mehr nachkommen. Ab diesem Zeitpunkt versuchte er, als politisch Verfolgter des Nationalsozialismus anerkannt und finanziell entschädigt zu werden. Mehrfach wurden seine Forderungen vom Landgericht der Hansestadt Bremen allerdings abgewiesen. Um seinen Anspruch geltend zu machen, hatte er unter anderem angegeben, vor 1933 der KPD angehört zu haben. Ursache dieser Lüge scheint Hespes starker Zug zur Selbstgerechtigkeit und sein kalkulierendes Denken gewesen zu sein. Schließlich hatte er im Dritten Reich politisch nicht opponiert, sondern ihm - so eine weitere, von Schneider nicht beachtete Interpretationsmöglichkeit des Handelns seines Protagonisten - aus ,,loyaler Widerwilligkeit" zugetragen. (3)Ausschlaggebend für seine Rehabilitierungsbemühungen war das Urteil des SS- und Polizeigerichts in Riga von September 1942, in dem der ehemalige Kaufmann wegen Zersetzung der Wehrkraft - nicht im Sinne von Kriegsdienstverweigerung - und Ungehorsam gegenüber Vorgesetzten zu einer fünfjährigen Zuchthausstrafe verurteilt worden war. In einem Bericht von 1951 legte er dar, dass die Vorgesetzten im Bataillon versagt hätten. Sie hätten verroht und charakterlos, nicht aber verantwortungsvoll und ehrenhaft gehandelt. Deshalb habe er sie vor ein Kriegsgericht der Wehrmacht bringen wollen. Charakteristisch an seinen Darlegungen sind persönliche, nicht aber weltanschauliche Differenzen gegenüber Bataillonsführern und nationalsozialistischer Ideologie.

Nach Ende seiner Haft im Zentralgefängnis in Riga zu Beginn des Jahres 1943 führte ihn sein weiterer Weg, der von Schneider mit dem unpräzisen Begriff des ,,Schicksals" bezeichnet wird, über das KZ Dachau und sein Außenlager in Allach im Februar 1945 - das Urteil des SS- und Polizeigerichts war nämlich in eine Gefängnisstrafe umgewandelt worden - in die ,,Einheit Dirlewanger", einem Strafregiment, in das vorbestrafte Militärs versetzt wurden. Aufgrund einer Verletzung war Hespe bei Kriegsende in einem Lazarett untergebracht. Von der Roten Armee verwaltet, wurden dessen Insassen als Kriegsgefangene behandelt. Auch wenn Hespe nie Mitglied der SS war, wurde er von der Sowjetunion wegen der Tätowierung seines Blutgruppenabzeichens als SS- und Polizeiangehöriger untersucht.

Nach seiner Entlassung aus der Gefangenschaft kehrte Hespe Anfang September 1945 nach Bremen zurück. Hier versuchte er, den alliierten Behörden seine Kenntnisse über Verbrechen des Reservepolizeibataillons 105 zu vermitteln - dies vermutlich wegen seiner Ressentiments, unter anderem gegenüber einem Spieß des Bataillons, den seine mittlerweile von ihm geschiedene Ehefrau zu heiraten gedachte. Nachdem Hespe seinen Anwalt mit der weiteren Bearbeitung seiner Entschädigungsforderungen betraut hatte - ein Verfahren, das erst 1959 mit der endgültigen Zurückweisung seines Anspruchs eingestellt wurde -, reiste er Anfang Mai 1946 nach Berlin.

Wie bereits den Westalliierten wollte er nun der sowjetischen Militäradministration von den Vergehen ehemaliger Bataillonsangehöriger berichten. Jedoch wurde Hespe als britisch-amerikanischer Agent qualifiziert und im ehemaligen KZ Sachsenhausen in Oranienburg bei Berlin interniert. Kurz vor der Auflösung des dortigen ,,Speziallagers Nr. 7" erfolgte seine Entlassung am 18. Januar 1950. Fortan lebte er in West-Berlin. Seine Erlebnisse als Insasse schilderte er der ,,Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit", die zwischen 1948 und 1959 gegen die Internierung von politischen Gegnern in der DDR agierte. Zusätzlich beteiligte er sich im Februar 1950 an der Gründung der ,,Vereinigung der Opfer des Stalinismus".

Den endgültigen psychischen Zusammenbruch des - um die staatliche Anerkennung als politisch Verfolgter bemühten Einzelgängers - Hans Hespe leitete das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) ein. Da er sich um die Aufklärung von Vergehen im ,,Speziallager Nr. 7" bemühte, war er dem MfS bekannt. Im Oktober 1954 wurde Hespe nach Ost-Berlin entführt und nach einer Revisionsverhandlung vor dem dortigen Stadtgericht wegen Gefährdung der Gesellschaft zu sechs Jahren Haft verurteilt. Begleitet von mehreren psychiatrischen Gutachten und unterbrochen durch Aufenthalte in Nervenheilanstalten, wurde er im Mai 1961 endgültig aus der Haft entlassen. Zurück in der Bundesrepublik begab er sich in psychiatrische Behandlung. Auch seine mehrfachen Versuche, als Opfer des Stalinismus juristisch anerkannt zu werden, scheiterten. Das unstete, um Selbstgerechtigkeit geführte Leben des Hans Hespe endete am 1. Dezember 1968; er starb an Leberkrebs. Von seinen 61 Lebensjahren hatte er gut 15 Jahre in Haft verbracht.

Die in weiten Teilen detailliert und informativ zu lesende Arbeit von Karl Schneider über die Lebenswege von Hans Hespe wird zusätzlich ergänzt durch ein Interview mit dem Psychiater und Psychotherapeuten Peter Kruckenberg. Kruckenberg sieht Hespe als ,,tragischen Helden" (S. 200), der vor allem nach dem Gerichtsurteil von Riga (1942) Opfer habe sein wollen. Inwieweit diese Einschätzung zutrifft, lässt sich letztendlich nicht ausmachen. Auch ähnelt sie zu sehr den Selbstdarstellungen von NS-Tätern der Nachkriegszeit. (4)

Jan Kiepe, Erfurt

Fußnoten:


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